Toni Stadler Global Times
Toni Stadler, Historiker, Experte, Referent
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"In Toni Stadlers Roman Kandy geht es um Konkurrenz, um das Leben als Wettlauf. Einzelne Szenen - so jene, als Kandy in Peru auf der Suche nach seinem verstorbenen Vater in der Abenddämmerung, begleitet von Blitz und Donner zu einer Insel übersetzt, und dort in einer schummrigen Bar den Freund seines toten Vaters trifft - lesen sich so spannend wie die Abenteuer des Inadiana Jones."
(Thomas Kropf, NZZ)
"Internationalität einmal anders: Zu bewundern ist, wie Stadler die verschiedenen Gesprächs- töne trifft; jeder Entwicklungs-helfer und jeder Empfindsame der achtziger Jahre wird bei ihm sprechend zur lebendig glaubhaften Figur. Toni Stadler kann schreiben...ein radikaler und unterhaltender und berührender Roman".
(Jürg Scheuzger, NZZ)
"Die Beschreibung des Milieus dieser weltläufigen Privilegierten gelingt dem Autor ganz hervorragend. Die geschilderten Figuren sind intelligent und tolerant (gelegentliches LSD, offene Ehen) und haben sich im Internationalismus nur allzu gut eingerichtet. Wunderbar fand ich das ausufernde Name-Dropping, der Figur Marius B. im Traum an Bord des im Juni 2009 abgestürzten Air France Fluges 447 von Rio de Janeiro nach Paris."
(buchkritik.de)
Während Toni Stadler für internationalen Organisationen arbeitete, Komitee vom Roten Kreuz, UNO, Schweizer Regierung, OEDC, publizierte er eine Anzahl Essays und Artikel in Tages Anzeiger Magazin, Tages Anzeiger, Frankfurter Allgemeine Zeitung und in der früheren Weltwoche, zu Fragen der internationalen Politik und über bewaffnete Konflikte in Lateinamerika, Afrika und Nahost.
NZZ 4.12.2019, Uno-Klimakonferenz Madrid:
Die grüne Welle mit Verstand reiten
von Toni Stadler
Mitten im politischen Aktivismus um die Uno-Klimakonferenz lohnt sich ein vergleichender Blick zurück, darauf wie die Schweiz im 20. Jahrhundert mit dem Wasserschutz umgegangen ist. Die erste Kläranlage der Schweiz entstand aus Furcht vor Cholera 1917 in St. Gallen. 1953 erhielt die Bundesverfassung einen Gewässerschutzartikel. Das dazugehörende erste Gesetz trat gemächliche vier Jahre später in Kraft. Selbst als in den sechziger Jahren zahlreiche Bäche, Flüsse und Seen mit Badeverboten belegt werden mussten, beunruhigte das wenige. Es brauchte den heilsamen Schock der Typhusepidemie von Zermatt (1963) mit 3 Toten, 400 Erkrankten und einem internationalen Imageschaden für den Tourismus, um Gesellschaft und Politik wachzurütteln. Das strenge Gewässerschutzgesetz von 1971 erzwang den Bau von Kläranlagen in allen Gemeinden.
Ein Bauprogramm über Dutzende Milliarden Franken durch Bund, private Unternehmen, Kantone und Gemeinden wurde eingeleitet. Es erhöhte den an Kläranlagen angeschlossenen Teil der Bevölkerung und Betriebe von 30 (1970) auf 90 Prozent (1990). Liest man Zeitungsartikel zum Wasserschutz jener Jahrzehnte, fällt auf, dass das Thema als eine technische Aufgabe betrachtet wurde, als notwendige Investition in die Zukunft, die nicht zum Stimmenfang bewirtschaftet wurde. Es entstand keine «Blaue Partei» für den Wasserschutz. Unternehmer beklagten sich nicht, die Kosten dafür gefährdeten die internationale Konkurrenzfähigkeit der Schweiz. Sie schluckten staatliche Verbote und Gebote, Industrieabwässer nur noch geklärt zu entsorgen.
Obschon der Kommunismus vor 1989 unter den Jungen populärer war als heute, sprach keiner von Systemwechsel oder Abschaffung der Marktwirtschaft zur Verbesserung der Wasserqualität. Niemand verlangte, dass wir Veganer werden, weil die Gülle von Nutztieren das Flusswasser vergifte. Und duschfreie Tage gab es keine. Verglichen mit heute, ging es rational zu und her. Man konzentrierte sich auf das dreckige Wasser und verschwendete keine Zeit mit Fingerzeigen, Seminaren über den «Mythos des Fortschritts», «existenzielle Abgründe» oder die baldige «Auslöschung der Menschheit».
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Weshalb ist dies beim Schutz des Klimas anders? Luft und Wasser sind gleich wichtige globale öffentliche Güter, für deren Erhaltung alle Erdbewohner verantwortlich sind. Ein erster Unterschied ist, dass beim Wasser die Ursache des Problems (fehlende Abwasserreinigung am Fuss des Matterhorns) direkt und jedem Physiklaien verständlich mit der Lösung des Problems (Kläranlagen in Zermatt zu bauen) verknüpft erschien. Beim Klimaschutz hingegen muss die Verknüpfung zwischen den Zehntausenden von SUV, die im Sommer und Winter bis zu den Parkplätzen des autofreien Zermatt fahren, und dem Anstieg des Meeresspiegels, etwa in Bangladesh, mit ein wenig geistigem Aufwand erst hergestellt werden.
Der zweite Unterschied ist, dass eine sauber gemachte Mattervispa die Qualität des Wassers in der Rhone, dem Genfersee und vermutlich auch in den Weltmeeren verbesserte, auch wenn am Indus oder am Amazonas nichts im Bereich Wasserschutz geschah. Luft ist global mobiler als Wasser. Sollte die Schweiz es schaffen, ihre Treibhausgase bis 2040 von über fünf Tonnen pro Einwohner auf zum Beispiel zwei Tonnen zu reduzieren – die USA, China, Russland, Indien und die Golfstaaten aber nicht –, wird die globale Klimaerwärmung weitergehen, als ob bei uns nichts getan worden wäre.
Das ist kein Argument, sich vom Klimaschutz zu verabschieden. Aber ein Problem, Steuerzahlern zu erklären, dass ihre in fossilfreie Energie investierten Milliarden zur Begrenzung des Klimawandels hierzulande leider keine sichtbaren Resultate zeigen dürften. Fazit: Wir sollten heute etwas tun, was beim greisen Philosophen Konfuzius den guten Menschen ausmacht: «Richtig handeln ohne Hoffnung auf Belohnung oder Angst vor Bestrafung im Diesseits und im Jenseits.» Ein schöner Gedanke, doch auf den guten Menschen zu setzen, ist im 21. Jahrhundert riskant. Wenn Leute, die jeden Tag zur Arbeit gehen, für ihre Steuergelder nichts zurückbekommen, greifen sie zu gelben Westen. Trotz alldem: Der globale Temperaturanstieg von Luft und Wasser muss gestoppt werden.
«Tut endlich etwas» ist kein Programm
Demonstrationen zur «Rettung der Welt» schaffen politischen Druck, führen aber kaum zu einem Aktionsplan, der technisch kompetent und politisch durchsetzbar wäre. Auf der Strasse wird Wichtiges und Unwichtiges durcheinandergemischt, etwa der CO2-Ausstoss bei der weltweiten Zementproduktion mit dem Aluminium in Kaffeekapseln. Auf der Strasse wird alles gleichzeitig gefordert: Die vorzeitige Abschaltung der AKW und fossilfreie Elektrizität, Windenergie und Nachtruhe, mehr Wasserkraft und wegen des Landschaftsschutzes nur ja keine neuen Stauseen oder Flusskraftwerke.
Logisch ist das zwar nicht, aber mit der unerfüllbaren Forderung «Netto null Emissionen bis 2030» können Wahlen gewonnen werden. Deshalb sind jetzt sämtliche Parteien grün. Niemand sollte deswegen «Opportunismus» schreien, sondern gratulieren. Klimaschutz den Links-Grünen allein zu überlassen, käme nämlich nicht gut. Dass nun aber jede politische Gruppierung ihre eigene Variante von Klimaschutz formuliert, ist der falsche Weg. Richtig wäre, Klimaschutz als ein überparteiliches Investitionsprogramm für die mittelfristige Zukunft zu lancieren, so wie das faktisch beim Wasserschutz geschehen ist. Dabei müsste jede Forderung ein Preisschild tragen, damit die Steuerzahler wissen, was in den anstehenden zwanzig Jahren auf sie zukommt. Die auszuhandelnden Punkte lauten wie folgt:
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Vollständig klimagasneutrale Stromerzeugung ist bis 2040 im nationalen Rahmen ohne importierten fossilen Strom machbar, sofern bestehende AKW vorläufig weiterbetrieben werden. Man erstelle ein Budget und teile die Kosten zwischen Staat und Industrie.
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Fossilfreies Heizen und Kühlen ist im nationalen Rahmen ebenfalls machbar, vorausgesetzt, dass ab sofort keine neuen Öl- und Gasheizungen mehr installiert und die bestehenden bis 2040 ersetzt werden. Man erstelle ein Budget und teile die Kosten zwischen Hauseigentümern und Mietern.
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Im privaten Transportwesen sind bis 2040 bedeutende CO2-Einsparungen möglich, falls (2020 angekündigt) ab 2030 keine Autos und Motorfahrräder mit Verbrennungsmotoren mehr neu zugelassen würden. Die Kosten tragen die Fahrzeughalter.
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Wünschenswerte Lenkungsabgaben auf Kurzstreckenflüge unter zwei Stunden im Rahmen der EU und negative Frequent-Flyer-Lenkungsabgaben für Langstreckenflüge im Rahmen der Iata sollten gefordert werden, sind aber rein national nicht sinnvoll.
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Damit eine internationale Wirkung auf den globalen Klimaschutz erzielt wird, sollten Konzerne und Investment-Funds mit Sitz in der Schweiz aufgefordert werden, hiesige Klimaschutzstandards freiwillig auch dort einzuhalten, wo die lokale Regierung dies noch nicht verlangt.
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Und die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz 2021 bis 2024 sollte, in Kooperation mit der Schweizer Industrie, auf eine fossilfreie Elektrifizierung und Modernisierung der ärmsten Volkswirtschaften Afrikas ausgerichtet werden.
Laut Uno-Bericht zur COP 25 ist die Schweiz zusammen mit der EU und sechs weiteren zumeist kleinen Ländern (Island, Liechtenstein, Monaco, Norwegen, Moldau, Ukraine) auf Kurs für das Klimaabkommen von Paris. Das ist tröstlich. Nur geht das Abkommen nicht weit genug. Und wird von mehreren G-20-Staaten nicht annähernd eingehalten. Die 25. Konferenz zum Klimaschutz wird das nicht ändern. Doch braucht es auch Vorbilder. Die Schweiz, eine Nation ohne Erdöl-, Kohle- und Gasindustrie, könnte zeigen, wie man – ohne die eigene Wirtschaft zu ruinieren – das Klima schützt.
Toni Stadler ist Historiker und Publizist mit einer internationalen Laufbahn bei IKRK, Uno, OECD-Entwicklungskomitee/-Umweltkomitee und EDA/Deza.
NZZ 1. Februar 2018
Von Rassismus und politischer Korrektheit
TONI STADLER
Rassismus, die Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers (Albert Memmi), ist keine Erfindung der Weissen. Den Feind zur Kröte zu reden, um ihn danach ohne Gewissensbisse zu versklaven, kam in China, in Japan, Indien, im Osmanischen Reich und selbst innerhalb des vorkolonialen Afrika vor. Arthur de Gobineau, Diplomat, Schriftsteller, Antiaufklärer und Berater Napoleons III., kann mit seinem «Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen» (1853) die Vaterschaft für den westlichen Rassismus beanspruchen. Er stellte eine Rangliste auf, zuunterst die Schwarzen, etwas höher die Gelben, zuoberst die Weissen, und behauptete, Rassenmischung schade immer der höheren Rasse.
Zwar wurden die Ideen des Grafen vor 1935 in keinem europäischen Land gesetzlich verankert, doch das Reden mit Begriffen aus der Pferdezucht wurde salonfähig. Dies lieferte den Kolonialmächten die Rechtfertigung, auch noch die letzten unbesetzten Flecken auf der Weltkarte zu erobern und den Eingeborenen weniger Rechte einzuräumen als Europäern. Rassismus wurde so zur Ideologie des Imperialismus. Parallel dazu stützte die englische Übersetzung von de Gobineaus Werk in den USA die Rassentrennungsgesetze (Jim Crow Laws) moralisch ab. Houston Stewart Chamberlain, Brite, Schriftsteller und Gatte einer Tochter Richard Wagners, hakte 1899 mit «The Foundations of the Nineteenth Century» nach, einem Bestseller, der den Chefideologen des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg inspirierte.
Ethnozentrismus und Arroganz
1916 folgte der Amerikaner Madison Grant mit seinem Buch «The Passing of the Great Race», das wesentlich zur Asian Exclusion Act von 1924 beitrug, welche die Einwanderung von Japanern und Chinesen in die USA verbot. Die deutsche Übersetzung seines Werkes begeisterte Adolf Hitler. Diese und andere rassistische Bücher aus der Zeit unserer Grosseltern waren nicht Nischenliteratur, sondern wurden zu Hunderttausenden beidseits des Atlantiks gelesen. Sie alle gingen davon aus, dass die weisse Rasse anderen Rassen überlegen und deswegen zum Herrschen bestimmt sei. Der Untergang des Nationalsozialismus machte dieser Art von Lesegenuss ein Ende, das Rassistische verschwand aus den Büchergestellen. Getrieben von schlechtem Gewissen und der kommunistischen Konkurrenz, restaurierten die westlichen Siegermächte die europäische Aufklärung. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 wurden alle biologischen und kulturellen Varianten des Menschseins einander gleichgestellt.
Die Völkerkundlerinnen Ruth Benedict und, später, Margaret Mead gingen noch einen Schritt weiter. Ethnozentrismus sei Arroganz; und fremde Kulturen könnten nur an ihren eigenen Werten gemessen werden. Der Kulturrelativismus – eigentlich ein radikaler Antirassismus – war geboren. Multinationale Konzerne und die Uno setzten das ethnisch gemischte Management in die Praxis um. Mein erster Chef beim UNDP war Koreaner, der zweite Japaner, der dritte ein afrikakritischer Togolese. Die 1986 in New York noch üblichen Sprüche über anderes Aussehen oder Akzente galten im Uno-Gebäude als unfein. Das «schwarze Schaf» und jede Redensart, die als verletzend hätte empfunden werden können, wurden sanft ausgerottet.
Das konfliktscheue Reden im gemischten Management war ein Fortschritt mit Nebenwirkungen: Es führte dazu, dass weisse und japanische Vorgesetzte aus Angst vor der Rassismus- oder Kolonialismuskeule es nur in Extremfällen wagten, den Kollegen des Afrikabüros oder der Nahostabteilung professionelle Mängel vorzuwerfen. Es half nichts, zu wissen, dass die meisten arabischen Länder viel länger durch das Osmanische Reich kolonisiert waren, welches den Handel mit schwarzen Sklaven so brutal betrieb wie der Westen. Unsere Kollegen, die an Ivy-League-Universitäten ausgebildeten Söhne und Töchter afrikanischer Chefs und arabischer Scheichs, sahen sich noch 40 Jahre nach der Unabhängigkeit als Opfer, mit uns als Tätern. Als ich im Entwicklungskomitee der OECD (DAC) zu arbeiten begann, hatte das konfliktscheue Reden die Entwicklungsdebatte erreicht. Sich im DAC des Neokolonialismus oder des Rassismus verdächtig zu machen, war karriereschädigend. Jeder der 30 Delegierten kannte die Probleme armer Länder, pardon, «Partnerländer», unterfinanzierte Schulen, unqualifizierte Minister, Korruption, fehlender Rechtsstaat – doch Regierungen direkt zu kritisieren, glich einer diplomatischen Todsünde.
Statt konkret zu sagen, was an der Governance in Burkina Faso mangelhaft sei, hiess es, es gebe dort «Raum für Verbesserungen». Statt zu sagen, Auslandhilfe habe wegen der Bevölkerungszunahme in der Sahelzone nichts erreicht, hiess es, «die Demografie und das Kulturelle dort bleiben eine Herausforderung». Statt zu sagen, der Mangel an Fortschritt in vielen Teilen Afrikas sei auch die Folge einer Kindererziehung, die Selbstverantwortung und Leistungswillen kleinschreibt, hiess es, die Geber müssten die Bildungsbudgets aufbessern. Und statt zu sagen, in islamischen Schulen werde dem Glauben mehr Zeit eingeräumt als dem kritischen Denken, schwieg man. Probleme, die nicht benannt werden dürfen, bleiben ungelöst. Ein guter Teil des Misserfolgs der internationalen Zusammenarbeit in Afrika und in arabischen Ländern hat damit zu tun, dass weder die Vertreter der Weltbank noch die der Uno oder der Entwicklungsagenturen mit den Eliten Klartext sprechen. Mit der politischen Korrektheit wurde das konfliktscheue Reden auch auf anderen Gebieten trendig. Dass dieses gestelzte Wort kurz nach der Wende die Welt eroberte, lag am Zeitgeist. Die Auflösung der Sowjetunion galt im Westen als Sieg des Liberalismus und der Marktwirtschaft. Im Vakuum, kreiert durch das «Ende der Geschichte», breitete sich im Englischen ein Reden nach Regeln aus, das niemanden auf der Welt ausschloss und alle einschloss, die sich modische T-Shirts und Mobiltelefone leisten konnten.
Politische Korrektheit als Ideologie
Politische Korrektheit wurde so zur Ideologie der Globalisierung. Vom Europa links der Mitte beflissen aufgenommen, dehnte sich die korrekte Sprechgewohnheit auf Gender, Alter, Rasse aus. Das Resultat nach 25 Jahren geschönter Wirklichkeit ist lamentabel. Noch nie ist in sozialen Netzwerken derart unzivilisiert über Menschen mit abweichenden Meinungen, Herkunft oder Aussehen gesprochen worden wie heute. Beim Rassismus steckt die Diskussion in einer Sackgasse, wo es fast nur noch Platz gibt für gute Antirassisten und böse Rassisten. Statt Wirklichkeit mit Sprache verändern zu wollen, müsste es darum gehen, die veränderbaren Stigmata zu beseitigen, welche rassistische Gefühle verursachen oder verstärken. Die Ablehnung von Andersheit ist nicht einfach ein Charakterfehler schlecht erzogener Rechtswähler. Durch Sprechverbote in den Untergrund abgedrängt, kommt sie immer dann an die Oberfläche, wenn Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität mit Armut, Ungebildetheit, Vulgarität oder Kriminalität einhergehen. Zum Beispiel, wenn die Mehrheit der Drogenhändler in Lausanne Nigerianer sind oder wenn Islamisten in der westlichen Welt Terroranschläge begehen.
Was sollte die politische Korrektheit ersetzen? Ein ehrlicher mitmenschlicher Umgang ohne spezielle Regeln gegenüber bestimmten Gruppen. Eine Rückbesinnung auf Stil, guten Geschmack, kritische Höflichkeit also. Für krasse Fälle gibt es das Strafgesetzbuch. Expatriierte Nichtweisse in meinem privaten Umfeld am Genfersee empfinden die politische Korrektheit zunehmend als Paternalismus, wenn nicht als Beleidigung. Das Schandwort «Rassist» werde heutzutage inflationär angewendet, finden sie. Was heute im Weissen Haus und auf den Fussballplätzen Europas geschehe, sei traurig, aber nicht mit dem Rassismus der Kolonialzeit vergleichbar. Menschen anderer Hautfarbe und Augenform seien keine Kinder. Sie wüssten sehr wohl, wie man sich wehre. Ein verbaler Tollpatsch blamiere schliesslich nur sich selbst.
Toni Stadler, Historiker, arbeitete 25 Jahre bei IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza in Asien, Nahost und Afrika.
NZZ, 24.10.2018:
Restauration des Nationalismus – es geht nicht um Psychologie, sondern um handfeste Probleme
von Toni Stadler
Europa erlebe eine Identitätskrise. Vor allem amerikanische Medien, beharrlich darauf aus, den Niedergang der Alten Welt bestätigt zu sehen, behaupten das. Ist es eine Krise der Identität, die hinter dem Aufstieg populistischer Parteien von Rom bis Stockholm, dem Niedergang der sozialdemokratischen Parteien und dem Volks-Ja für den Brexit steckt? Oder eher ein prekäre Lebensgefühl, wie es sich etwa im Lausanner Stadtteil Bourdonnette präsentiert?
Die Wer-bin-ich-Frage hat die Menschen wohl beschäftigt, seit sie denken können. Mein Labrador kümmert sich nicht darum. Wo es einen starken Wunsch gibt, sind die Wunscherfüller nicht weit. Während einiger tausend Jahre sagten Religionen den Menschen, woher sie kommen, wer sie sind, wohin sie gehen. Ein vom Körper unabhängiger «Geist» oder eine «Seele» beherrschte das Denken um die Identität und deren kostenpflichtige Pflege durch Mönche, Priester und Imame. Die Säkularisierung führte zur monistischen oder biologischen Einheit von Körper und Geist, von Verstand und Gefühl. Eine weltliche Identität bildete sich. Auch aus ihr kann politisches und materielles Kapital geschlagen werden. Damit sind wir bei der Nutzung der Wer-bin-ich-Frage im 21. Jahrhundert.
Identitätspolitik und Identitätskommerz
«Identität» wird zurzeit für so vieles verwendet, dass die psychologische Definition nicht weiterhilft. Die Identität des Einzelnen kann sprachlich sein (ich bin Romand), religiös (ich bin Christ), regional (ich bin bayrisch), national (ich bin Amerikaner) oder international (ich bin Expatriierter). Als ob das noch nicht komplex genug wäre, bilden sich zunehmend Gruppenzugehörigkeiten, denn ein einsamer Mensch will niemand sein. Man gehört zur linken Szene, ist Veganer, fährt Auto, fährt nicht Auto. Die attraktiven Männer und Frauen auf den Werbeplakaten sagen uns täglich, mit welchen Kreisen wir uns identifizieren dürfen – allerdings erst nach dem Kauf einer Rolex oder einer Nespresso-Maschine. Auch bei IT-Firmen und in den sozialen Netzwerken ist Gruppenidentität en vogue. Schliessen Sie sich der Apple-Familie an, werden Sie Mitglied der Facebook-Community! Identität zu versprechen, gehört, nebst Erfolg, Reichtum und Jugend, zu den ganz grossen Ködern der Werbebranche. Aufpassen muss man nur, dass einem die Identität nicht via Computer gestohlen wird. Doch davor schützt uns eine Software von McAfee für 20 Dollar.
Die politische Nutzung von Identität setzte in den USA nach der Civil Rights Act von 1964 ein. Speziell die Demokratische Partei sprach die wachsende nichtangelsächsische Bevölkerung, Schwarze, Hispanics, Italiener, Iren, China-Amerikaner, Japan-Amerikaner, nun gesondert an. In den Städten bildeten sich Anwaltskollektive, die Angehörige von «minority communities» bei Diskriminierung Schadenersatzklagen anboten. Dem folgte die kommerzielle Nutzung vor allem der Hautfarbenidentität, mit Werbung in der U-Bahn von New York für Fortbildungskurse, Hautcrème oder Hamburger. Das zielte besonders auf Schwarze und Hispanics. Spätestens mit den Plakaten mit der Aufschrift «United Colors of Benetton» um 1990 schwappten solche Verkaufsmethoden auf Europa über. Gute Politik (und gutes Geschäft) sollten über dem stehen, was Menschen voneinander trennt. Die Mobilität von Kulturen, Religionen und Menschen liess Identitätspolitik als zunehmend dysfunktional erscheinen. Im Wahlkampf versperrt der Rückgriff auf eine angeborene Identität der Einheimischen oder der Zugewanderten den Blick auf das Gemeinsame aller Staatsbürger. Damit fällt sie hinter die nationalistische Identität der Romantik zurück.
Identität unter globalen Nomaden
In der internationalen Schule für Uno-Angestellte in New York ist das Lehrpersonal gehalten, den Unterricht nationalitäts- und religionsneutral zu führen. Was sich wie ein weiterer Auswuchs der politischen Korrektheit anhört, hat – wenn es um moderne Identität geht – seine Vorzüge. Auf der Gymnasialstufe, Fach Philosophie, Kapitel «Personal and Group Identity», stand in den Schulbüchern unserer Kinder, frei übersetzt, etwa das: «Eine klare Identität zu haben, ist existenziell, weil uns das handlungsfähig macht. Dein bisheriger Lebenslauf ist deine Identität. Was du seit dem Alter von drei Jahren bewusst erlebt hast, zusammen mit Familie, Verwandten, Freunden, Lehrern, plus deine Fähigkeiten und deine Pläne für die Zukunft bilden dein einmaliges Ich. Eine Identität ist nie fertig, sie wächst mit dir weiter. Zu wissen, wer man ist, benötigt nicht unbedingt eine Nation, eine gewisse Sprache, eine politische Partei, eine Religion. Deine Rolle als Mitarbeiter der Uno zum Beispiel oder die in einem Weltkonzern verhilft Zehntausenden von Menschen weltweit zu Identität. Eine bestimmte Landschaft lieben, sich einer bestimmten Kultur zugehörig fühlen, einen bestimmten Lebensstil bevorzugen, all das kann jeder Mensch auch so.» So weit die Uno. Mit Blick auf die angehende Restauration des Nationalismus in den USA und in Europa könnte man heute beifügen: «Normale Menschen wissen sehr wohl, wer sie sind. Misstraue jedem Politiker, Priester, Altphilologen, der dir eine Identität aufschwatzen oder verkaufen will. Weil du bereits eine hast.»
Den Mangel an Identität für den neuen Nationalismus verantwortlich zu machen, lenkt vom Problem ab. Auch Menschen mit intakter Identität können die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Arbeiter, Angestellte und selbst Kleingewerbetreibende in Vorstädten mit hohem Ausländeranteil befürchten dies. Ein Besuch in Bourdonnette bei Lausanne, einem von drei Quartieren, wo kein Ferrari parkiert, bestätigte das. Drei Schweizer, ein Buschauffeur, ein Bauarbeiter, ein Hilfspfleger erzählten mir in ihren hellhörigen Wohnungen von zu hohen Mietzinsen, fast nur zugezogenen Nachbarn ohne Französischkenntnisse, Drogenhandel auf dem Kinderspielplatz und von der guten alten Zeit ohne Velodiebstähle. Speziell die über 50-Jährigen, stolz darauf, mit ihrer Arbeit und ihren Steuern die Autobahnen, Tunnels, Schulen, Hallenbäder, Skilifte und Spitäler mitfinanziert zu haben, sehen sich über den Röstigraben hinweg als Eigentümer der Schweiz. Sie wollen nicht, dass in Lausanne «verwilderte Subkulturen» voller untätiger junger Männer entstehen, wie sie in amerikanischen Städten üblich seien. Sie sind erzürnt über die rot-grüne Stadtverwaltung, die fremden Arbeitslosen eine Wohnung und Sozialleistungen in Bourdonnette zur Verfügung stelle. Von der Polizei und den Gutgeschulten («les bien éduqués») in der Stadtverwaltung würden sie weder mündlich angehört noch schriftlich ernst genommen. Der Ruf nach einer Restauration des Nationalismus ist in diesem Stadtteil nicht weit. «La Suisse aux Suisses!» Während Sozialdemokraten und Grüne gegen «Turbokapitalismus», Fremdenhass und «neuen Faschismus» auf die Strasse gehen, sich für eine zusätzliche Sportveranstaltung oder verbesserte Velorouten starkmachen, wenden sich die Wähler von Bourdonnette den Politikern zu, die versprechen, die Zuwanderung rigoros auf Integrationswillige mit Arbeitsplätzen zu beschränken.
Verwalten statt gestalten
Im Stadthaus von Lausanne geht es natürlich gelassener zu. Wer die lokalen Zeitungen liest, erhält den Eindruck, der Dauerfriede und Dauerwohlstand der vergangenen siebzig Jahre habe die Stadtregierung denkfaul gemacht. Es wird verwaltet statt voraussehend regiert. Ein Besuch in Bourdonnette steht nicht in der Stellenbeschreibung. Gibt es soziale Probleme zu analysieren, ist der Konsultant nicht weit. Begeht ein Ausländer ein Verbrechen, heisst es, Lausanne sei dennoch nicht Molenbeek. Man verteidigt seinen Job, seine menschliche Gesinnung, den guten Lohn. Und wurde mit der irregulären Zuwanderung auf dem falschen Fuss erwischt. Vor allem gemässigt linke Parteien und ihre hohe Zahl von akademischen Mitgliedern in Bildung, Kultur, Medien, Justiz, Verwaltung finden offensichtlich keine überzeugende Antwort angesichts der Tatsache, dass es einige hundert Millionen Menschen in Afrika und im Nahen Osten gibt, die nach Europa umziehen möchten, und Europa sie nicht alle nehmen will oder kann. Mit einer Identitätskrise hat all dies nichts zu tun.
Manches in Lausanne könnte lokal verbessert werden und manches nicht. Die Migrationspolitik wird in Bern gemacht. Dort sieht man unkontrollierte Armutsmigration noch immer als einen lästigen Streit zwischen Brückenbauern und Mauer-Errichtern, zwischen weltoffenen Linken und hartherzigen Rechten. Migrationspolitik und Entwicklungspolitik sind Zwillinge. Die Perspektivlosigkeit in Afrika und in der arabischen Welt – zusammen 1,5 Milliarden Menschen – kann nicht durch die Aufnahme selbst einiger Millionen Armutsmigranten in Europa beseitigt werden. Heute brauchte es den Mut, die Asylverfahren vollständig in die Herkunftsländer und Auffanglager der Herkunftsregion zu verlegen, wie das Kanada tut. Und neue Ideen, wie das riesige Wohlstandsgefälle zwischen Europa und seiner instabilen Nachbarschaft im Süden abgebaut werden kann. Darüber muss ernsthaft gesprochen werden.
Toni Stadler studierte Kolonialgeschichte und Biologie. Nach 25 Jahren Dienst für IKRK, Uno, OECD und EDA/DEZA lebt er in Lausanne.
Tages-Anzeiger 28.09.2017
Die falsche Migrationsdebatte
Die Schweiz könnte ihre Auslandhilfe zur Migrationsbegrenzung einsetzen. Warum wird darüber nicht diskutiert?
Toni Stadler
Manche Sätze machen misstrauisch. «Migranten aus Ländern mit ernsten Problemen grosszügig in Europa Asyl zu gewähren, ist wenigstens ein Beitrag zur Linderung von Armut und Not anderswo», ist so ein Satz, den man seit Jahren an jeder Diskussion über Armutsmigration hört. Nicht bedacht wird dabei, dass sich die ärmste Milliarde der Menschheit keine Schlepper leisten kann. Europäer fühlen sich gut dabei, Kriegsvertriebenen Unterschlupf zu gewähren – obwohl diese eigentlich durch die Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung im Heimatland oder in den Nachbarländern durch das IKRK und UNHCR zu schützen wären.
Wir halten es für das Minimum an Menschlichkeit, dass eine drohende Zwangsverheiratung in der Schweiz als Asylgrund gilt, ohne an die weltweit 700 Millionen Frauen zu denken, die zwangsverheiratet sind. Kanadas Premierminister Justin Trudeau lässt sich für die Aufnahme von Homosexuellen aus Tschetschenien als Champion für die «Gay Rights» feiern, ohne von afrikanischen und islamischen Gesellschaften einen aufgeklärten Umgang mit den 5 Prozent Homosexuellen zu fordern, die es in jeder Gesellschaft gibt. Österreichs Grüne verlangen, die Genitalverstümmelung müsse ein Asylgrund sein, ohne anzuprangern, dass diese von der UNO verbotene Praktik in den Ländern zwischen Senegal, Ägypten, dem Sudan bis Somalia jährlich an 3 Millionen Mädchen vorgenommen wird. Die Symptombehandlung von Menschenrechtsverletzungen ist so normal geworden, dass wir es kaum mehr merken.
Politische Grenzen sind vertretbar
Probleme muss man anpacken, wo sie verursacht werden. Eine hohe Zahl Armutsmigranten ist ein Hinweis darauf, dass vieles im Herkunftsland nicht stimmt. Gewiss: Entwicklungszusammenarbeit allein kann die Flucht aus der Misere nicht stoppen. Nur kontrollierte Grenzen mit Verweisung der echt Verfolgten auf dem Botschaftsweg kann das. Kontrollierte Grenzen sind menschlich und politisch vertretbar, wenn den Herkunftsländern stärker und auf wirksame Art geholfen wird. Für die Entwicklung armer Länder ist das kein Nachteil. Die Auswanderung entzieht der Gesellschaft nicht nur Fachkräfte, sondern auch die politische Opposition, die es dort dringend braucht.
Letzten Herbst fand im Nationalrat eine heftige Debatte zur Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2017 bis 2020 statt. Es erstaunt, dass diese Kritik bis heute keine Diskussion darüber ausgelöst hat, wie Auslandhilfe zur Migrationsbegrenzung eingesetzt werden könnte, damit sie wieder von allen grossen Parteien getragen wird. Möglich wäre eine Konzentration auf die Länder, aus denen die meisten Armutsmigranten kommen – auf Kosten von Programmen in Asien und Lateinamerika. Oder eine Umstellung der Süd-Hilfe auf fossilfreie Industrialisierung, um Arbeitsplätze in den Städten zu schaffen – auf Kosten der ländlichen Gebiete. Verbunden mit Familienplanung in Gegenden mit mehr als drei Kindern pro Frau.
Vieles wäre möglich
Afrikanische und arabische Länder kommen nicht darum herum, sich nach ostasiatischem Vorbild in die globale Produktionskette einzubringen. Wichtig wäre auch eine Einflussnahme der Schweiz auf Währungsfonds, Weltbank, UNO, die Regierungen dieser Problemregionen dazu zu bringen, mehr Selbstverantwortung für ihre Armen zu übernehmen und Auslandhilfe zur Wirtschaftsentwicklung zu verwenden.
Möglich ist vieles. Man müsste darüber reden, besser schon nach dem Amtsantritt des neuen EDA-Chefs und nicht erst 2020.
Toni Stadler, NZZ 29.7.2017
Warum der Schweiz «Patriotismus light» gut täte
Vier Sprachen, zwei Konfessionen und drei Arten, die Kartoffeln zuzubereiten, erlaubten es der Schweiz als Nation nicht, völkisch zu werden.
Die wachsende Mobilität von Menschen, Kulturen, Religionen und Gewalt macht Angst. Soll auf diese Verunsicherung mit mehr oder mit weniger Patriotismus reagiert werden? Eine kürzlich durchgeführte Diskussionsstunde am Deutschlandradio mit dem Titel «Tablet oder Humboldt» zeigte eindrücklich, dass die Idee der menschlichen Identität als Verwurzelung in einer romantischen Landschaft, einer Heimatstadt, einer bestimmten Sprache und Kultur, traditionelle Vaterlandsliebe also, selbst in linksliberalen Kreisen Europas noch immer als unersetzliche Stifterin von Identität gilt. Die Kenntnis der Geschichte seiner Nation schaffe Identität und Lebenssinn, wurde in der Sendung gesagt. Die Frage sei erlaubt: Stimmt das eigentlich?
Den Lebenslauf im Kopf
Menschen sind keine Bäume. Wer in einer zweisprachigen kulturell gemischten Familie lebt – das sind am Genfersee, in Zürich, Basel heute viele –, wundert sich. Zehntausende von international arbeitenden Professionellen besitzen, ohne viel Patriotismus und oft ohne Religion, eine starke Identität. Diese Beobachtung ist für die Integration von Migranten bedeutsam. Personenfreizügigkeit und die Ankunft von Kriegsvertriebenen und Flüchtlingen haben in fast allen Ländern der OECD zu einem wachsenden Anteil von im Ausland Geborenen geführt; Spitzenreiter sind Luxembourg mit 43 Prozent, es folgt die Schweiz mit 28 Prozent. Praktische Erfahrung mit international aufgewachsenen Kindern zeigt, dass die eigene Biografie, das Sicherinnern an das, was man ab dem Alter von drei Jahren erlebt und gelernt hat, für die Entwicklung einer persönlichen Identität das Entscheidende ist. Wer sein Gedächtnis verliert, existiert nicht mehr. Wer seine nationale und kulturelle Umgebung wechselt, lebt weiter, oft sogar besser.
Jeder Zuwanderer reist also vorerst einmal mit seinem individuellen Lebenslauf im Kopf ins Gastland ein. Von ihm eine sofortige Assimilierung einzufordern, führt zu überhöhten Erwartungen und unnötigen Integrationsmassnahmen. Denn auf die Unsicherheit nach dem Umzug in eine fremde Umgebung reagieren Neuankömmlinge seit je auf verschiedene Arten: Eine Minderheit kopiert von Beginn an forciert die Lebensweise des Gastlandes, schneidet die Kontakte mit der Vergangenheit ab, unterdrückt Gedanken an die Herkunftskultur, erzieht die Kinder zu schweizerischen Superpatrioten. Eine Mehrheit legt sich eine distanzierte Haltung gegenüber der Lebensweise im Gastland zu, bleibt in Kontakt mit der Heimat, idealisiert ihre ursprüngliche Kultur, erzieht die Kinder so, wie man einst selbst erzogen worden ist, und geht zu ihresgleichen in Kirche, Moschee oder Hindutempel.
Eine wachsende Zahl von Expatriierten schliesslich, Angestellte internationaler Firmen oder Organisationen wie der Uno, identifiziert sich stärker mit ihrem Arbeitgeber als mit dem Geburtsland oder Gastland und denkt meist nicht daran, sich einbürgern zu lassen. Diese drei Gruppen unter einen patriotischen Hut mit den Sesshaften zu bringen, ist gelinde gesagt eine Herausforderung. Denn ob im Ausland Geborene temporär oder permanent in der Schweiz leben wollen, ob sie sich um einen Pass bewerben oder nicht, ein Patriotismus der gefühlten Identifikation mit der hiesigen Lebensweise oder gar Heimatliebe wird sich erst nach Jahrzehnten oder in der nächsten Generation einstellen.
Die Schweiz hat seit 1848 mit einem leichten Patriotismus gute Erfahrungen gemacht. Vier Sprachen, zwei Konfessionen und drei Arten, die Kartoffeln zuzubereiten, erlaubten es dieser Nation nicht, völkisch zu werden. Gute Voraussetzungen also, um den Patriotismus zu erweitern, ihn mit zeitgemässen Inhalten zu füllen und damit für die globalisierte Zukunft fit zu machen.
NZZ 8.6.2017
G20 und Afrika:
Zwischen Schönreden und Panikmache
von Toni Stadler
Ein Tabu ist etwas, worüber man nicht sprechen darf. In zwanzig Jahren Entwicklungszusammenarbeit bei Uno und Deza erinnere ich mich an keine Diskussion über die notwendige Reduktion der Geburtenzahlen in afrikanischen Ländern. Für die Delegierten ehemaliger Kolonialmächte im Entwicklungskomitee der OECD glich das Kritisieren afrikanischer Bräuche einer diplomatischen Todsünde. Selbst in der Botschaft über die internationale Zusammenarbeit der Schweiz 2017 bis 2020 kommen «die kulturell sensiblen Bereiche Familienplanung und Empfängnisverhütung» nur in einem einzigen Satz vor. Und auf der Agenda der G-20 in Hamburg fehlt das Thema.
Unter Entwicklungsexperten gilt der Glaubenssatz, dass in afrikanischen Gesellschaften mit zunehmendem Wohlstand die Geburtenraten von selbst sinken würden, so wie das in Europa geschehen sei. Wer von Afrikanern eine Reduktion der Kinderzahl fordert, wird des Neokolonialismus verdächtigt oder in die Ecke von Paul R. Ehrlich («Die Bevölkerungsbombe») gestellt, dessen pessimistische Prophezeiung ja auch nicht eingetroffen sei. In den vergangenen vier Jahrzehnten sind mit Programmen zur Familienplanung in den meisten Weltregionen, ob konfuzianisch, buddhistisch, muslimisch, christlich, ob monogam oder polygam, grosse Fortschritte erzielt worden. Alle OECD-Länder plus einige Schwellenländer haben Kinderzahlen, welche unter der sogenannten «Ersatzrate» von 2,2 pro Frau liegen. In Lateinamerika nimmt die Bevölkerung kaum mehr zu, und nach Schätzungen der Uno sollen Asien und der arabische Raum bis 2050 «nur» noch um eine Milliarde Menschen wachsen und sich danach bei 2,2 Kindern stabilisieren.
Trotz dieser positiven Bilanz wächst die Gesamtbevölkerung des Planeten jährlich etwa um die Bevölkerung Deutschlands weiter an. Wichtigster Grund dafür ist die unverändert hohe Kinderzahl von durchschnittlich 5,5 im Afrika südlich der Sahara. In Somalia und Niger werden sogar mehr als 6 Kinder pro Frau geboren. Laut Uno-Hochrechnungen dürfte sich die Bevölkerung Afrikas bis 2050 verdoppeln, von einer Milliarde auf zwei Milliarden. 2035 wird die Hälfte aller neu arbeitssuchenden Menschen Afrikaner sein. Alle wirtschaftlich erfolgreichen Entwicklungsländer haben ihre Massenarmut wesentlich mit Kampagnen zur Verringerung der Kinderzahl beseitigt, China etwa oder Taiwan, Thailand und Bangladesh. UNFPA-Mitarbeiter beklagen den fehlenden Willen vieler afrikanischer Regierungen dafür. Vielleicht, weil sie ihre traditionellen Autoritäten nicht provozieren und damit die nächsten Wahlen verlieren wollen? Der Internationale Währungsfonds prognostiziert für das Afrika südlich der Sahara 2017 ein Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent. In den ärmsten Sahel-Staaten überschreitet die jährliche Bevölkerungszunahme 3 Prozent. Also werden die Früchte des Wirtschaftswachstums durch die Zunahme der Anzahl Menschen aufgegessen. Solches macht Entwicklungshilfe zu Sisyphusarbeit. Die internationale Zusammenarbeit ist seit ihrem Beginn mit Armutsbekämpfung begründet worden. Fünfzig Jahre guter Wille und manche positiven Resultate – doch die Frage muss erlaubt sein, ob damit nicht auch falsche Anreize geschaffen worden sind.
Armen Menschen zu helfen, ist vorab die Aufgabe der lokalen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Dafür braucht jedes Land eine Regierung, welche Wirtschaft, Staat, Sozialdienste so führt, dass es möglichst wenige Arme gibt, und die damit auch eigenverantwortlich wird für eine Begrenzung des Bevölkerungswachstums. «Das Desaster-Dreieck Umweltdegradation - Armut - Jugendarbeitslosigkeit produziert Terroristen und führt zu einem ansteigenden Exodus nach Europa», sagte kürzlich der Präsident der Afrikanischen Entwicklungsbank warnend. Europa reagiert hilflos und redet die irreguläre Migration schön: Völkerwanderungen habe es schon immer gegeben, heisst es, keine von ihnen sei aufgehalten worden. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern defaitistisch. Trotz Globalisierung geht es auch heute noch darum, dass Menschen primär in ihren Geburtsländern Arbeitsplätze finden. Dazu ist das Jahresbudget von 142,6 Milliarden US-Dollar (2016) Auslandhilfe der OECD-Länder da. Afrika braucht Rechtssicherheit, besseres Regieren, Investitionen, erneuerbare Energie, Berufsbildung und – wichtig – eine Reduktion der Geburtenzahl. Die Auswanderung der afrikanischen Jugend löst die Probleme ihrer Herkunftsländer nicht. Dafür schafft sie Probleme in den Ankunftsländern. Westeuropa, überbeschäftigt mit der Integration von nicht selektionierten Migranten und Kriegsvertriebenen, befindet sich auf dem Weg zur politischen Lähmung. Dies in einer Zeit, da der Kontinent eine Führungsrolle in liberaler Demokratie, Menschenrechten und Klimawandel spielen müsste.
Toni Stadler ist Historiker mit Arbeitserfahrung bei IKRK, Uno, EDA-Deza und OECD in Asien, dem Nahen Osten und in Afrika; Buchpublikation: «Global Times» (2015).
Tages-Anzeiger 22. April 2017
Klimapolitik muss die Marktwirtschaft steuern
von Toni Stadler
Nebst der Beschwörung von Mutter Erde, dem rituellen Bäumepflanzen und dem Erhalten von raren Tierarten geht es beim diesjährigen Earth Day am 22. April um die grüne Informationstechnologie. Ob man den Tag der Erde mag oder ihn schulterzuckend über sich ergehen lässt, eines ist sicher: Der Anlass hat in 50 Jahren weder in der US-Bevölkerung noch im Kongress eine Mehrheit für eine energische Bekämpfung der Klimaerwärmung geschaffen. Im Gegenteil: Abgestützt durch die Rhetorik des neuen Präsidenten, dem Stimmen von 75’000 Arbeitern der Kohleindustrie wichtiger sind als die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs, werden entsprechende Ausflüchte auch im Rest der Welt wieder salonfähig. Die Fahrlässigste davon: «Das Klima hat sich schon immer verändert, man muss sich eben anpassen.»
Natürlich, das Klima auf der Erde hat sich aus Gründen der Himmelsmechanik, Schwankungen der Sonnenaktivität und anderer Einflüsse tatsächlich schon immer verändert. Der moderne Mensch hat Kaltzeiten und Wärmeperioden überstanden. Vor 125’000 Jahren lag der Meeresspiegel 4 Meter höher als heute. Nur gingen die vorgeschichtlichen Veränderungen sehr viel langsamer vor sich. Und über die Opfer der Anpassung wissen wir wenig. Landesgrenzen gab es keine, die nomadisierenden Jäger und Sammler waren unabhängig von bebauten Feldern, Arbeitsplätzen, Wasserleitungen und Steckdosen.
Bis vor 10’000 Jahren lebten nur einige Millionen Menschen auf der Erde. Im 18. Jahrhundert, der Zeit des Ökonomen Adam Smith, weniger als eine Milliarde. Aus der Vergangenheit kann man auch das Falsche lernen. Heute besteht die Menschheit aus über 7 Milliarden Sesshaften. Wir haben uns in Landesgrenzen und in Nationen mit Grundbuchämtern eingezäunt. Die Hälfte wohnt in Städten am Meer, die andere lebt abseits der Küsten von regenabhängiger Landwirtschaft, die fast alles fruchtbare Land bebaut. Wandel mag im individuellen Leben etwas Spannendes sein. Betrifft er das Klima, ist rascher Wandel an sich hochgradig riskant.
Zwar ist es möglich, dass die Prognosen der Wissenschaftler nicht genau so eintreffen werden. Selbst eine temporäre Abkühlung des Klimas während der kommenden Jahrzehnte wäre denkbar. Darauf zu spekulieren – also anzunehmen, eine Milliarde Tonnen fossilen Kohlendioxids pro Jahr würde die globalen Luft- und Wasserströme nicht verändern – ist aber eine Verleugnung der Realität. Wahrscheinlicher ist, dass noch zur Lebenszeit unserer Kinder mehr als 100 Hafenstädte, etwa Shanghai, Bangkok, Dhaka, mit Deichen geschützt oder teilweise ins Inland verschoben werden müssen. Dutzende von Millionen Reisbauern im flachen Küstenstreifen am Golf von Bengalen können nur mit einem Grossaufwand an Dämmen vor der Vertreibung ins Inland verschont werden.
Eine geografische Verschiebung der Monsunregen hätte in ganz Südasien katastrophale Auswirkungen. Die gegenwärtige Dürre im Süd-Sudan und in Somalia zeigt, wie fragil die Sahelzone mit ihrer rasch wachsenden Bevölkerung auf Wetterveränderung ist. Damit verglichen sind Schweizer Klimawandel-Probleme unbedeutend. Im Vergleich dazu würden zwei Jahre ohne Regen im Kanton Tessin «nur» die Tourismus-Industrie zerstören.
Schreckensszenarien reissen heute niemanden mehr aus dem Sessel. Emotional gefeierte «Tage der Erde» zur Änderung des Konsumverhaltens offensichtlich auch nicht. Die bisher 20 von der Wissenschaft gesteuerten Klimakonferenzen scheiterten am mangelnden politischen Gesamtwillen. Und nun – nach dem wahrscheinlichen Ausstieg der USA aus dem Klimaabkommen – auch die 21. Das Verbrennen von fossiliertem Kohlenstoff wird also weitergehen. Bis es nichts mehr davon gibt?
Weshalb haben UNO-Klimakonferenzen so wenig erreicht? Eine wirksame Energiewende erfordert unpopuläre Massnahmen: für die Konsumenten eine massive Besteuerung von Treibstoffen, Heizöl und Elektrizität aus fossilen Quellen. Und für die Ölindustrie nichts weniger als die Aufgabe ihres Geschäftsmodells. Damit verliert man Wahlen. Der Klimawandel entblösst die Grenzen der liberalen Demokratie. Nach dem absehbaren Scheitern des zu früh gefeierten Abkommens von Paris müssten sich selbst Wirtschaftsliberale fragen, ob die unsichtbare Hand des Adam Smith in der Lage sein wird, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Höchstwahrscheinlich nicht.
Auch von der Aufklärung kann man das Falsche lernen. Dass der Mensch das Wetter verändern könnte, war im 18. Jahrhundert unvorstellbar. Bei der Handhabung des Klimawandels braucht die Marktwirtschaft ein Element der Steuerung. Vielleicht müssten Entscheidungen zur Begrenzung des Klimawandels der Demokratie entzogen werden, so wie die unverlierbaren Menschenrechte seit 1948 durch die UNO der Demokratie entzogen sind. Die am wenigsten ungerechte Lösung wäre, die Ablagerung von fossilem CO2 in einem ersten Schritt auf 5 Tonnen pro Kopf zu rationieren und die Erschliessung neuer Erdölvorräte zu verbieten. Dafür wäre eine globale Klimabehörde notwendig, die gegenwärtig niemand will. Wie lange noch?
Toni Stadler war Schweizer Delegierter im Environmental Policy Committee der OECD und ist Autor des Buches «Global Times» (Zürich, 2015).
NZZ 28.2.2017
Der neue Nationalismus
von Toni Stadler
Vor Schreck erstarrt und unfähig zu handeln, steht das liebliche Pokémon-Kaninchen mit den kreisrund-roten Backen vor der Schlange. Stellvertretend für die herrschende politische Klasse Europas vor den anstehenden Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland. Wer sagt es nicht: Rechtsnationale Parteien bewirtschaften erfolgreich die Furcht vieler Menschen vor den negativen Konsequenzen der Globalisierung, dem Verlust von nationaler Souveränität und persönlicher Identität.
Einen Arbeitsplatz für sich und seine Kinder zu haben, ist existenziell. Zu lange haben linke politische Strömungen die Globalisierung als ein neoliberales Komplott dargestellt. Mit dem Resultat, dass nun Rechtsnationale auf der erzeugten Angst ihre Suppe kochen. Globalisierung ist vorab eine Folge des technischen Fortschritts in Logistik und Kommunikation. Sie kann nicht aufgehalten, sondern höchstens verlangsamt und ökologisch-sozial verträglicher gestaltet werden.
Das Auslagern der Produktion in Tieflohnländer hat Hunderte von Millionen in China, Bangladesh, Indien, Mexiko von Armut befreit. Aus Entwicklungssicht ist das positiv; Afrika und die arabische Welt könnten davon nur lernen. Auslagerung hat aber auch Arbeitnehmer in OECD-Ländern um ihre Stelle gebracht. Nicht so sehr in den nordischen Staaten, in Deutschland oder in der Schweiz, sondern dort, wo Regierungen es verpasst haben, auf hochwertige Investitionsgüter und Dienstleistungen umzustellen, Produktionskosten zu senken, das Bildungssystem anzupassen und den Sozialstaat klug abzuspecken.
Einen Arbeitsplatz für sich und seine Kinder zu haben, ist existenziell. Zu lange haben linke politische Strömungen die Globalisierung als ein neoliberales Komplott dargestellt. Die Angst der Rechtsnationalen ist berechtigt. Wegen Kriegen und Konflikten, Klimaerwärmung, hoher Geburtenraten, Jugendarbeitslosigkeit versuchen jährlich mehr Menschen in die industrialisierte Welt umzuziehen. Laut einer Gallup-Umfrage würde jeder dritte junge Afrikaner nach Europa oder in die USA auswandern, wenn er könnte.
Die Zahlen für den arabischen Raum und Vorderasien sehen ähnlich aus. Massenmigration ist aber nicht die Lösung für schlechtes Regieren und schlechtes Wirtschaften. Die Auswanderung von jungen Männern beseitigt die Ursachen von Armut und Kriegen nicht, schwächt dagegen das Entwicklungspotenzial im Ursprungsland. Europas staatstragende Parteien müssen sich für eine selektive und kontrollierte Einwanderung entscheiden, damit Rechtsnationale nicht weiter an Boden gewinnen. Überfällig ist auch eine Revision der Flüchtlingskonvention von 1951. Die Schliessung der EU-Aussengrenzen für irreguläre Einwanderer unter Verweis der echten Flüchtlinge auf den Botschaftsweg wäre vertretbar, vorausgesetzt, dass die Gelder für überflüssig gemachte Asylapparate, für humanitäre Hilfe, Rückkehr-Unterstützung und Entwicklungsarbeit verwendet werden.
Patriotismus darf nicht einfach als Auslaufmodell behandelt werden, sondern braucht moderne Inhalte: weg vom Gemeinsamkeitsgefühl aller Staatsbürger mit ähnlicher Abstammung und gleicher Geschichte, hin zu einem Gefühl der Loyalität gegenüber dem Gastland und dessen Institutionen. Viele Zuzügler schaffen diese Umstellung, manche nicht. Unter den Einheimischen schleicht sich das Gefühl ein, die europäische Lebensweise an eingewanderte Lebensweisen anpassen zu müssen. Sinkendes Niveau in den Schulen, Zunahme von Sozialbetrug, Terroranschläge: Furcht vor Rückschritt macht sich breit. Gutgemeinte Aufrufe zu Toleranz gegenüber Andersartigkeit machen diese Furcht nicht weg. Wir leben in härteren Zeiten als auch schon. Das Kaninchen Pikachu muss sich als Mungo reinkarnieren. Auch in einer globalisierten Welt wollen Menschen einen geografischen Raum, der bereitstellt, was es zum Leben braucht: sichere Städte, gepflegte Dörfer, gute Schulen, Universitäten, Arbeitsplätze, Krankenversicherung, Pensionskasse und eine hohe Lebensqualität im Alter. Bietet ihnen die Regierung dies nicht mehr an, wählen sie rechtsnational.
Toni Stadler ist Historiker mit zwanzig Jahren Berufserfahrung für IKRK, Uno, Deza und OECD; er ist Autor des zeitgeschichtlichen Romans «Global Times».
NZZ 13. Januar 2017
Der PISA-Test und die Ameisen
von Toni Stadler
Ende 2016 wurden die Schweizer 15-Jährigen Europameister in Mathematik. Das ist erfreulich. Nur, seit dem Ende der Kolonialzeit sind Europameister nicht mehr automatisch Weltmeister. Haben wir es aufgegeben, uns mit den Klassenbesten zu vergleichen, mit Singapur, China, Taiwan, Südkorea, Japan? – Ich habe je einen Drittel meiner beruflichen Laufbahn in Afrika, im Nahen Osten und in Ostasien verbracht. Die Chefs der Asienabteilung des UNDP stammten aus Nationen, die im Pisa-Test die ersten fünf Ränge belegen. Es sind konfuzianisch durchdrungene Länder. Die diesseitige Philosophie des Konfuzius geht davon aus, dass das Universum, die Welt und der Mensch rational verstanden werden können. Ziel des Lebens ist, der bestmögliche Mensch zu werden, ohne Hoffnung auf Belohnung im Diesseits oder im Jenseits. Dazu braucht es Fleiss, Disziplin und Leistung. Dies sollte uns Europäern bekannt vorkommen. Schon die Aufklärer haben Konfuzius studiert. Immanuel Kants kategorischer Imperativ gleicht der Ethik des chinesischen Altmeisters. All das wissen gebildete Ostasiaten. Ihr Bild der Moderne ist dem heutigen Westeuropa geistesverwandter als Islamismus, Animismus oder christlicher Fundamentalismus.
Europäische Bildungsverantwortliche haben Mühe mit den fernöstlichen Schulsystemen. Irgendetwas an solchen Spitzenleistungen kann doch nicht stimmen. Natürlich kommt die Kritik politisch korrekt daher: Zweifellos wissen die Ostasiaten, wie man organisiert, wie man den Kindern Mathematik, Physik, Chemie, Ökonomie einpaukt, doch gerade deswegen fehlt es an Kreativität, an Erfindungsgabe und ganz generell an einer humanistischen Bildung, wie sie an den philosophischen Fakultäten Europas erworben werden kann. Die französische Premierministerin Edith Cresson hatte diese Art von Hochnäsigkeit einmal ungewollt auf den Punkt gebracht, als sie sagte: «Wir Europäer sind keine Ameisen.»
In Ostasien werden Naturwissenschaften und Technik mit Fortschritt und steigendem Wohlstand assoziiert. Dies hat fast überall zu zeitgemässen Bildungssystemen geführt. Vermutlich hat der westliche Rückstand im Pisa-Test wenig mit Drachenmüttern und Ameisenfleiss zu tun, dafür viel mit einer bewussten Beschränkung der Lehrpläne aller Stufen auf das Wesentliche und Anwendbare. In Ostasien werden Naturwissenschaften und Technik mit Fortschritt und steigendem Wohlstand assoziiert. Dies hat fast überall zu zeitgemässen Bildungssystemen geführt. In Singapur, Korea, Taiwan und in den Grossstädten Chinas studieren zwei Drittel der Studenten im Hauptfach Mint-Disziplinen, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Ingenieurwesen. Integriert in die Hauptfächer sind die allgemeinbildenden Nebenfächer. Durch das Verknüpfen von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft wird die Trennung zwischen exakten und nichtexakten Wissenschaften gemildert. Es lohnt sich, die Lehrpläne von Singapur anzuschauen: Zur Kunstfertigkeit in der Primarschule gehört das Malen von Schriftzeichen; zur Mathematik in der Sekundarschule gehört die Geschichte der Zahlen und ihrer Beziehungen zueinander; im Fach «Menschsein» auf der Gymnasialstufe werden Biologie, Sozialverhalten, Rechtskunde vermittelt.
Seit etwa 1970 ist es in Europa chic, gegenüber Naturwissenschaften und Technik skeptisch zu sein. Gleichzeitig wird unsere Jugend auf der Basis eines Angebots schöngeistiger Fächer aus dem 19. Jahrhundert unterrichtet. Damals befasste man sich mit den Unterschieden zwischen den Nationen, zwischen den Sprachen, zwischen den Rassen, zwischen Kulturen und Religionen. Die mit Abstand grösste Fakultät war und ist die philosophische Fakultät. Noch heute leisten sich die Länder der Europäischen Union den Luxus, bis zur Hälfte ihrer begabtesten 20-Jährigen vergangenheitslastige Geisteswissenschaften studieren zu lassen: von der griechischen Philologie über die Skandinavistik bis zur Indologie, so als ob die Universitäten jener Länder dies nicht selbst tun könnten. Einmal gegründete Forschungsgebiete sind in Europa unsterblich. Niemand fragt: Wozu tun wir das heute noch?
Was lernen vom Fernen Osten? In einer zusammenwachsenden Welt brauchen Heranwachsende das Rüstzeug, um Gegenwarts- und Zukunftsprobleme lösen zu können: Klimawandel, Einbezug der armen Länder in die Globalisierung, vernünftige Kontrolle der Migration, Umgang mit Andersheit. Eine Fokussierung der Lehrpläne auf das Anwendbare und Finanzierbare würde Europa guttun. Auf Kosten von Fächern, die sich in den vergangenen 150 Jahren angesammelt haben und die heute keine Prioritäten mehr sind. Es geht um eine Balance zwischen dem Glück der freien Studienwahl und dem Beitrag staatlich finanzierter Universitätsbildung an die Gesellschaft. Die Studentenzahlen steigen, gleichzeitig importiert die Schweiz Naturwissenschafter. Ein Numerus clausus für Geisteswissenschaften und gewisse Sozialwissenschaften wäre der Anfang einer Trendumkehr.
Toni Stadler ist Historiker mit 20 Jahren Arbeitserfahrung bei IKRK, Uno, Deza und OECD; er ist Autor des Romans «Global Times» (Offizin-Zürich-Verlag, 2015).
NZZ 7. September 2016
Salafistischer und radikaler Islam:
Eine gefährlich unzeitgemässe Ideologie
von Toni Stadler
In Lausanne sieht man relativ oft voll verschleierte Frauen, weil sie im französischen Evian in der Umgebung ihrer Sommerresidenzen nicht öffentlich flanieren dürfen. Aus einer geschützten Behausung zu beobachten, ohne selbst beobachtet oder in ein Gespräch verwickelt zu werden, muss Musse zum Nachdenken geben. Was halten die Frauen hinter dem Sehschlitz von ausgelassenen jungen Schweizerinnen in Shorts und lockeren T-Shirts? Was von Liebespaaren, die sich auf dem Trottoir küssen? Was von gestylten Karrierefrauen in modernen Hosenanzügen, unbegleitet auf dem Weg zum Flughafen?
Dominanz der Männer
Vollverschleierte sind vom Kindesalter an, behütet und bewacht durch ihre Eltern, in die Rolle als erste oder zweite Gattin und Mutter hineingewachsen. Die Vollverschleierung des weiblichen Gesichts, lange vor Mohammed bei gewissen Nomadenstämmen der Brauch, wurde auf der Arabischen Halbinsel unter dem Islam weitergeführt und seit dem Wirken eines der Vordenker des Salafismus, Abd al-Wahhab (18. Jahrhundert), verschärft durchgesetzt. Nikab und Burka schützten nicht nur vor Sand und Sonnenbrand, sondern stellten vor allem sicher, dass Frauen während der langen Abwesenheiten des Gatten nicht mit anderen Männern in Kontakt treten und aussereheliche Kinder zur Welt bringen konnten.
Heute ist die vollständige Verhüllung des Frauengesichts in der Öffentlichkeit vorwiegend im salafistischen oder im radikalen Islam die Norm. Diese Glaubensrichtung ist keine Randerscheinung wie etwa jene der fundamentalistischen Christen in den USA. Sie ist die Grundlage von Gesellschaft und Rechtsprechung in fast einem Dutzend Ländern, darunter Saudiarabien, die Golfstaaten, der Sudan, Somalia, Mauretanien. Typisch für den Salafismus ist eine im Vergleich zum Rest der Welt ungewöhnlich starke Dominanz der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, des Klerus über das Alltagsleben der Gesellschaft; dazu kommen eine Erziehung zum absoluten Gehorsam gegenüber dem Herrscher plus ein grotesk unerbittlicher Umgang mit Gesetzesbrechern.
Diesen archaischen Islam als eine zurückgebliebene, aber bald einmal von selbst aussterbende Lehre zu betrachten, ist ein Fehler. Seine Bedeutung nimmt zu. Insgesamt verletzen salafistische Staatsapparate etwa dreimal häufiger Menschenrechte als das dafür oft kritisierte China. Diesen archaischen Islam als eine zurückgebliebene, aber bald einmal von selbst aussterbende Lehre zu betrachten, ist ein Fehler. Seine Bedeutung nimmt bekanntlich zu. Über die Islamische Weltliga, ein durch die saudische Regierung gesteuertes Hilfswerk, verbreitet das Königreich, in dem andere Religionen verboten sind, den Salafismus in der islamischen Welt und bei den Migranten in der Diaspora. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit mit 56 Mitgliedstaaten und Sitz in Jidda blockiert im Menschenrechtsrat der Uno seit Jahren fast jede Kritik an der Menschenrechtspraxis in salafistischen Ländern. Für Saudiarabien ist diese Organisation offensichtlich ein Instrument, um die fundamentalistische Glaubensrichtung zu einer starken Kraft innerhalb des Islams und damit international akzeptierbar zu machen. Dabei wird leichtfertig oder zynisch in Kauf genommen, dass das Gedankengut des Salafismus (zum Beispiel: «Wer sein Leben im Kampf gegen Ungläubige opfert, kommt ins Paradies») vom Islamischen Staat und von seinen Helfern in der Diaspora als Legitimation für Terrorschläge gegen «Ungläubige» oder moderate Muslime verwendet wird.
Die gegenwärtige Burka-Debatte lenkt ab vom wirklichen Problem. Die Tatsache, dass siebzig Jahre nach der Unterzeichnung der Uno-Charta (1945) und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (1948) schätzungsweise 100 Millionen Menschen in Staaten leben, wo das Gesetz des Salafismus, die Scharia, gilt, ist ein wesentlich grösseres Ärgernis als die paar hundert voll verschleierten Frauen auf den Einkaufsstrassen Europas. Erinnern wir uns daran, dass es Zeiten gegeben hat, da alle Uno-Mitglieder sich darauf einigen konnten, dass die gleichen Menschenrechte für alle Menschen gelten sollten. Dies nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der Unterzeichnung der Universellen Menschenrechtserklärung, und ein zweites Mal nach der Auflösung der Sowjetunion, an der Weltmenschenrechts-Konferenz von Wien (1993). In Wien bekräftigten alle Mitgliedsländer, die Einhaltung der Menschenrechte voranzutreiben. Geschehen ist das Gegenteil. In Brunei wurde 2014 die Steinigung wieder eingeführt. Auf den Malediven gilt wieder die Scharia als Gesetz. Die Anzahl salafistischer Moscheen und Schulen, finanziert durch die Golfstaaten, hat sich seit 1993 weltweit vervielfacht. Irgendwann um die Jahrtausendwende ist die moderne Welt vor der Macht der Petrodollars eingeknickt. Wann hat ein Präsident, ein Premierminister oder ein Uno-Hochkommissar für Menschenrechte zum letzten Mal die Scharia öffentlich als unvereinbar mit den Menschenrechten bezeichnet? Die linksliberale Mehrheit in Europa und in den USA, gefangen im politisch Korrekten, bemüht sich, den Islam inklusive Salafismus wie irgendeine andere Religion zu behandeln, und hat Angst davor, der Intoleranz mit Intoleranz zu begegnen. Die internationale Geschäftswelt, welche die schulterzuckende Akzeptanz jeder Art von Kultur, Religion oder Lebensstil längst zum globalen Geschäftsprinzip gemacht hat, stimmt der Linken in diesem Fall gerne zu, um keine Probleme mit Riad zu bekommen. Schliesslich kaufen auch Salafisten Waffen, sie fliegen Airbus und trinken Coca-Cola. Sind Nikab und Burka zur Zielscheibe so vieler europäischer Politiker geworden, weil sie sich aus geschäftlichen Gründen nicht trauen, Saudiarabien und die anderen Golfstaaten für deren Machtpolitik mit dem Salafismus als Instrument zur Rechenschaft zu ziehen?
Ächtung des radikalen Islams
Wie umgehen damit, in Europa, in der Schweiz? Als Einzelmassnahmen sind Verhüllungsverbote wie in Frankreich, Belgien oder im Tessin Symbolpolitik zur Mobilisation von Wählerinnen und Wählern. Glaubwürdiger und wirksamer wäre ein Verhüllungsverbot als Teil eines Paketes von innen- und aussenpolitischen Massnahmen mit dem Ziel der weltweiten Ächtung des radikalen Islams. Um die Ausbreitung des Salafismus zu stoppen, um den Menschenrechten im Nahen Osten Nachachtung zu verschaffen und um den sektiererischen Bürgerkriegen in der islamischen Welt ihre Rechtfertigung durch die Religion zu entziehen. Also keine Finanzierung von Moscheen in Europa durch Staaten mit salafistischen Institutionen. Keine Imame, die sich nicht öffentlich vom Gedankengut des radikalen Islams distanzieren. Keine Missionierung des menschenrechtsverletzenden Salafismus in Europa und anderswo. Wirtschaftlicher Druck könnte dem nachhelfen. Die Umstellung auf eine fossilfreie Energieversorgung wird eine Reduktion der Intensität des Handels mit den Golfstaaten möglich machen. Hunderte der grössten multinationalen Konzerne haben sich im UN Global Compact zur Einhaltung und zur Förderung der Menschenrechte in ihrem Einflussbereich bekannt. Moral vor Geschäft könnte in dieser Situation nicht nur ethisch vertretbar, sondern langfristig ertragreicher sein, denn die moderate islamische Welt ist ein grösserer Markt als die salafistische. Das geeignetste Forum, um den Salafismus auf höchster Ebene zu konfrontieren, wäre die G-20, wo Saudiarabien, mit kleinerem BIP als die Schweiz, Mitglied ist. Für fast alle der neunzehn übrigen Mitglieder der Gruppe, insbesondere für China, Russland, Indonesien, ist die Ausbreitung des radikalen Islams in ihren Ländern eine Bedrohung. Die Welt steht heute vor der Wahl, die Macht einer gefährlich unzeitgemässen Ideologie weiter anwachsen zu lassen oder sie in ihre Schranken zu verweisen. Nikab- und Burka-Verbote in Europa greifen dafür zu kurz.
Toni Stadler ist Historiker, mit 25 Jahren internationaler Arbeit bei IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza, unter anderem im Irak. Er ist Autor des zeitkritischen Buches «Global Times: Roman über moderne Nomaden» (Offizin-Zürich-Verlag, 2015).
Toni Stadler, NZZ 21.4.2016
Für eine säkulare Ethik:
Die zehn Gebote der Integration
Der Nahe Osten ist ein Schulbeispiel dafür, wie verheerend Religionen und Konfessionen noch im 21. Jahrhundert Menschen voneinander trennen und sich als Vorwand für endlose Bürgerkriege um die Macht im Staat eignen. Der gegenwärtige Fundamentalismus in verschiedenen islamischen Ländern und bei deren Auswanderern in Europa bedeutet kein natürliches Wiedererstarken des wortwörtlichen Glaubens. Die Ausbreitung des Salafismus ist das Instrument des saudischen Königshauses zur politischen Einflussnahme auf die ganze Umma. Und die Stärkung der schiitischen Konfession hilft den geistlichen Führern von Iran bei der Ausdehnung ihrer Macht in der islamischen Welt.
Das Glauben an den «richtigen» Gott kultiviert die Gruppenidentität, trennt aber gleichzeitig die eigene Gruppe von allen Menschen mit einem «falschen» oder mit keinem Gott. Menschen verschiedener Kulturen können nur konstruktiv in derselben Gesellschaft zusammenleben, wenn sie alle ein Minimum von gemeinsamen Werten als selbstverständlich anerkennen. Wer heute in Europa einwandert, trifft auf eine offene, mehrheitlich säkulare Welt. Mindestens ein Drittel der Europäer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vom Gottesglauben gelöst. Ein weiteres Drittel macht noch pro forma bei einer Religionsgemeinschaft mit. Damit ist die Säkularität zum am weitesten verbreiteten Weltbild Europas geworden. Die Kriminalität in unseren Ländern ist deswegen nicht angestiegen, sie ist tiefer als in fast allen religiösen Ländern, und für die Armen ist besser gesorgt als etwa in den USA.
Immigranten sollten sich dafür interessieren, wie man auch ohne Religion gut leben kann. Menschen, für die ein Leben ohne Gottesglauben etwas Verwerfliches ist und die das auch an ihre Kinder weitergeben, werden nie ein integrierter Teil unserer Gesellschaft werden. Sie sollten sich dafür interessieren, wie man auch ohne Religion gut leben kann. So unterschiedliche Denker wie Max Weber, Hans Küng, Richard Dawkins oder eben der Dalai Lama haben die biblischen Zehn Gebote, die Bergpredigt, die zehn Lebensregeln des Hinduismus, die acht edlen Pfade des Buddhismus, die fünf Säulen des Islam der Moderne anzupassen versucht. Manche Säkulare, geleitet durch den gesunden Menschenverstand, stellen sich daraus ihre eigenen zehn Gebote für den Hausgebrauch zusammen, zum Beispiel folgende: 1. Betrachte und behandle jeden Menschen und alles Lebendige mit kritischer Sympathie! 2. Vertiefe dein Wissen jeden Tag, hinterfrage Selbstverständliches, bilde dir lebenslang eine eigene Meinung, und lasse dich nie blind von jemand anderem führen! 3. Menschen belügt, bestiehlt, quält und tötet man nicht! 4. Diskriminiere nie nach Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunftsland! 5. Respektiere das Recht deiner Zeitgenossen, nicht der gleichen Meinung sein zu müssen wie du! 6. Verpflichte deine Kinder auf keine bestimmte Religion oder Partei. Lehre sie, selbständig zu denken, nicht, was zu denken! 7. Setze dich lebenslang für global gleiche Startchancen und gegen jede Art von Verdummung ein! 8. Wo du Ungerechtigkeit und unfaire Spielregeln oder Gesetze erkennst, ändere sie demokratisch! 9. Schütze die Umwelt: Dein ökologischer Fussabdruck muss als Modell für alle sieben Milliarden Erdbewohner gelten können! 10. Sprichst du von der Zukunft, denke an die ganze Erdgesellschaft und 100 Jahre über deine eigene Lebenszeit hinaus! - So weit die säkulare Predigt. Für Eltern mag es praktischer sein, ihre Kinder in den Religionsunterricht zu schicken, als ihnen eine Ethik ohne Belohnung und Bestrafung im Jenseits beizubringen, doch eine säkulare Ethik funktioniert so gut wie eine religiöse.
Falls die Anschläge in Paris und Brüssel etwas Positives bewirkt haben sollten, dann, dass die bis anhin oft gedankenlos verwendeten Wörter «Multikulturalismus» und «Integration» endlich ernsthaft hinterfragt werden. Ein Zusammenleben verschiedener Kulturen kann offensichtlich nur funktionieren, wenn sich jede von ihnen zu einer Anzahl gemeinsamer Werte bekennt. Im Falle der Schweiz sind das die in der Bundesverfassung verankerten Grundrechte, welche ihrerseits auf den universellen Menschenrechten beruhen. «Multikulturalität» heisst nicht, dass jeder Immigrant und jede Immigrantin einfach tun kann, was seine heiligen Bücher ihm oder ihr vorschreiben. «Integration» heisst nicht, den Einwanderer vom Zwang zur Anpassung an die Gastgesellschaft zu entlasten und die Verantwortung dafür den Sozialdiensten zu übergeben. Unser Land beherbergt 350 000 zumeist moderate Muslime aus der Türkei und dem Balkan, von denen sich die meisten Secondos säkularisieren und damit problemlos der offenen Gesellschaft einpassen. Schwieriger oder unmöglich scheint die Anpassung von Einwanderern aus Ländern, wo der Islam die Gesellschaftsordnung darstellt, mancherorts komplett mit dem Koran als Verfassung und der Scharia als Rechtssystem.
Deshalb, und weil nicht Daoisten, Buddhisten, Hindu oder fundamentale Christen die Terroranschläge planten und ausführten, sind viele Europäer misstrauisch gegenüber dem Islam als Ganzem. Mit Islamophobie hat das nur am Rand zu tun. Was sich gegenwärtig in unserer Gesellschaft abspielt, ist eine Art geistiger Kampf der Kulturen. Allerdings nicht zwischen Islam und Christentum, sondern zwischen dem fundamentalistischen Islam saudischer Prägung und den religionsunabhängigen Werten der offenen Gesellschaft. Dementsprechend müsste der Dialog mit moderaten Muslimen auf europäischer Seite vermehrt von säkularen Personen und Institutionen geführt werden. Religionsfreie Europäer mit Einfluss sollten sich nicht darauf beschränken, den eingewanderten Islam gegen Rechtsparteien zu verteidigen. Hilfreicher für die langfristige Integration der muslimischen Immigranten wäre, unsere säkulare Ethik vermehrt in die Diskussion einzubringen, zu erklären und sie selbstbewusst vorzuleben.
Es ist heutzutage nicht leicht, in Europa Muslim zu sein. Mit jedem weiteren Anschlag würde das noch schwieriger werden. Dass die meisten Menschen – Muslime und Nichtmuslime – Terroranschläge verabscheuen, Friede und Toleranz hochhalten, ist trivial und muss nicht speziell besprochen werden. Dass eine offene Gesellschaft keine Religion verbietet, aber alle Religionen mit rechtsstaatlichen Mitteln dazu zwingt, sich verfassungskonform zu verhalten, ebenfalls nicht. Und selbstverständlich sollte man im Europa des 21. Jahrhunderts nicht über die Steinigung von Ehebrecherinnen diskutieren müssen. Solche Praktiken sind seit der Menschenrechtserklärung von 1948 weltweit verboten. Bis hierher ist vermutlich jede moderate islamische Organisation, wie etwa die Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS), offiziell einverstanden. Doch ihre Website vermittelt den Eindruck, bei der Terrorbekämpfung handle es sich lediglich um ein Polizeiproblem, welches überhaupt nichts mit dem Islam zu tun hat. Es finden sich darin keine Selbstkritik und schon gar keine Aufrufe an Eltern und Imame, nebst der eigenen Religion auch die Werte unserer offenen Gesellschaften an ihre Kinder zu übermitteln. Lehren Eltern und Imame ihren Jugendlichen, dass sie in der offenen Gesellschaft der Schweiz ab 16 Jahren das Recht haben, ihre Religion frei zu wählen? Lehren sie, dass Schweizer Bürger auch die Freiheit haben, an keinen Gott glauben zu müssen? Lehren sie, dass in einer offenen Gesellschaft Söhne und Töchter das Recht besitzen, ihre Ehepartner auch gegen den Willen ihrer Eltern frei zu wählen? In einer liberalen Gesellschaft wird die Macht von Geistlichen und Eltern über Kinder und Jugendliche bewusst durch die Menschenrechte begrenzt. Lehren Imame und Eltern den Heranwachsenden, dass gewisse Suren des Korans – wörtlich genommen – Schweizer Recht, die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzen? Distanzieren sich alle Imame in Schweizer Moscheen von solchen Passagen? Und schauen sich auch moderate muslimische Eltern hin und wieder die Seiten ihrer unmündigen Kinder auf sozialen Netzwerken an? Es ist heutzutage nicht leicht, in Europa Muslim zu sein. Mit jedem weiteren Anschlag würde das noch schwieriger werden. Grund genug für jeden moderaten Muslim, sich nach seinen Möglichkeiten in der Schweiz und international für eine Reform des Islam einzusetzen oder sich einer säkularen Ethik zuzuwenden.
Toni Stadler ist Publizist mit 20 Jahren Arbeitserfahrung für IKRK, Uno und EDA/Deza. Er ist Autor des Buches «Global Times», Offizin-Zürich-Verlag, 2015.
NZZ Meinung und Debatte vom 30.9.2015
Flüchtlingskrise:
Migration ist nicht die Lösung
Die Ratlosigkeit angesichts der Hunderttausende von Menschen, die dem Krieg in ihrem Geburtsland durch Flucht nach Westeuropa entkommen, hat mit der Konfusion rund um das Wort «Flüchtling» zu tun.
von TONI STADLER
Die Ratlosigkeit angesichts der Hunderttausende von Menschen, die dem Krieg in ihrem Geburtsland durch Flucht nach Westeuropa entkommen, hat viel mit der Konfusion rund um das Wort «Flüchtling» zu tun. Selbst das Uno-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen äussert sich in seinen Medienstatements wenig klar. Diese ernste Situation ist Chefsache. Es wäre angebracht, der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, würde ein Globalkonzept zum Umgang mit dieser speziellen Situation vorschlagen, statt Regierungen von Aufnahmeländern nach dem Grad ihrer Grosszügigkeit zu benoten.
Die Flüchtlingskonvention der Uno wurde vor 54 Jahren geschrieben, aber sie ist bis heute gültig. Ihr Kern: «Flüchtlinge sind Menschen, die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung ausserhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.» Zivilpersonen, die sich kriegsbedingt ausserhalb ihres Wohnorts oder Heimatstaates aufhalten, etwa die Kambodschaner nach 1979 in Thailand, wurden noch korrekt «Displaced Persons» oder «Kriegsvertriebene» genannt und nach Friedensschluss repatriiert. Displaced Persons brauchen Schutzzonen und Versorgung vor Ort oder im Nachbarland.
Neuniederlassung (Resettlement) in einem Drittland kann fast immer nur die Ausnahme sein, auch weil man damit die aktivsten und gebildetsten Menschen dem Bürgerkriegsland entzieht und damit die interne Opposition gegen die kriegstreibenden Eliten schwächt. Dass jeder problemlos in Europa akzeptierte Neuankömmling seinen Bekanntenkreis im Herkunftsland dazu ermuntert, es ihm gleichzutun, ist nichts weiter als selbstverständlich. Nur verschiebt sich damit die Lösung des Problems auf später. Was Syrerinnen und Syrer heute brauchen, ist eine durch die Uno garantierte Schutzzone im eigenen Land oder in gut geführten Aufnahmelagern in den Nachbarländern, finanziert durch die wohlhabenden Länder am Golf und im Westen. Dies ermöglicht es Vertriebenen, mit ihrer Heimat in Kontakt zu bleiben und nach Ende des Konflikts wieder in ihr Land zurückzukehren.
Die grosszügige permanente Aufnahme von Kriegsvertriebenen ist langfristig keine Lösung. Das schlechte Gewissen wegen der Verfolgung von Minderheiten während der Nazizeit und die koloniale Schuld Europas sind untaugliche Ratgeber für die Gegenwart. Der Migrationsdruck auf den Westen ist nicht mit der Flüchtlingssituation während und nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar.
Der Schrecken gleich mehrerer Bürgerkriege bringt heute Hunderttausende von grösstenteils gebildeten Menschen in Afghanistan, Syrien oder Nordafrika dazu, ihren langgehegten Wunsch, in die industrialisierte Welt umzuziehen, in die Tat umzusetzen. Die Europäische Union wird kaum darum herumkommen, ihre Aussengrenzen für Illegale so dicht zu schliessen wie die USA oder Kanada, die pro Million Einwohner wesentlich weniger legale Migranten aufnehmen.
Die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Schlechtregierten und Gutregierten, zwischen Kriegsversehrten und Kriegsverschonten lassen sich nicht mit Migration lösen. Was es heute braucht, ist ein Ende der sektiererischen Konflikte im Nahen Osten, in Afghanistan und ein Ende inkompetenten Regierens, zum Beispiel in Eritrea oder in mehreren Sahelländern, damit möglichst viele Kriegsvertriebene und Wirtschaftsmigranten sicher zurückkehren können – plus eine wirtschaftliche Entwicklung in ganz Afrika, die diesen Namen verdient. Dafür muss sich die politische Schweiz von links bis rechts international starkmachen.
Toni Stadler hat 20 Jahre für das IKRK, UNHCR und UNDP in Flüchtlingslagern und 15 Jahre für das EDA/Deza gearbeitet. Er ist Autor des Romans «Global Times».
NZZ Meinung und Debatte vom 30.1.2016
Falscher Kulturalismus
Der Islam als Ganzes braucht eine Reform
von Toni Stadler
Ich erinnere mich noch genau an eine Reihe von Sitzungen vor mehr als zwanzig Jahren im Uno-Gebäude von Bagdad, als wir mit unseren muslimischen Arbeitskollegen die Vereinbarkeit des Korans mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte überprüften. Dies war 1991, als Saddam Hussein, nach seinem gescheiterten Kuwait-Abenteuer geschwächt, wieder die antiislamische Karte spielte, unsere Kollegen also für kurze Zeit so etwas wie Meinungsfreiheit erleben durften.Damals kamen wir zum Schluss, dass das Buch Mohammeds, wörtlich genommen, 14 der 30 Menschenrechte verletzt, unter anderem die Religionsfreiheit, die gleichen Rechte für Mann und Frau oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dies ist bemerkenswert, weil der Irak, Iran, Syrien und Saudiarabien Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen waren, die Menschenrechte also akzeptierten (Saudiarabien mit Vorbehalt) und dies 1993 an der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien bestätigten.
Daran zu erinnern, scheint mir in der politisch korrekten Gegenwart wichtig, wo fast alle im Westen pflichtschuldig sagen: Kulturen und deren Religionen sind gleich. Was bedeutet, dass man alle respektieren soll, auch wenn sie den Austritt aus der eigenen Religionsgemeinschaft mit dem Tod bestrafen, die Frauen von der Öffentlichkeit verbannen, unmündige Mädchen zwangsverheiraten oder, um ein Beispiel von ausserhalb des Islams zu nehmen, ihnen mit Lippentellern ihr Gesicht verunstalten wie beim äthiopischen Hirtenstamm der Mursi. Das politisch korrekte Europa der Gegenwart, geistig unterstützt von universitären Lehrstühlen der Ethnologie oder der Islamwissenschaft, verteidigt zurzeit fast bedingungslos jede Kultur, die nicht die unsrige ist. Irgendwann nach dem Ende des Kolonialismus in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg muss sich die Kritik an fremden Kulturen und Religionen in ein gesamteuropäisches Tabu verwandelt haben, während sich umgekehrt in muslimischen Ländern, finanziert durch mehrere Golfstaaten, der wörtliche und fundamentalistische Glaube an den Koran und seine Dogmen immer weiter ausbreitete.
Wenn man sich gegenseitig nicht kritisieren darf, nimmt man sich nicht wirklich ernst. Selbstverständlich kann und darf es auch nach den jüngsten islamistischen Terroranschlägen von Paris und San Bernardino nicht darum gehen, Muslime unter Generalverdacht zu stellen. Dennoch scheuen Meinungsmacher in Europa, in den USA und in der Uno nach wie vor vor einer offenen Diskussion darüber zurück, weshalb es nur in einer Weltreligion Menschen gibt, welche Ungläubige im Namen Gottes nach dem Leben trachten. – Aus Respekt vor der anderen Kultur und aus Angst vor Extremisten auch in den eigenen Reihen findet diese Debatte nur in Randzirkeln statt. Menschen verschiedener Hautfarbe oder Nation gleich respektvoll zu behandeln, ist indessen nicht dasselbe, wie jede Kultur, Religion oder Philosophie unhinterfragt als gleichwertig zu akzeptieren. Respekt verdient, was die Menschenrechte einhält. Weil das kaum je klar gesagt wird, herrscht Verwirrung: Gläubige berufen sich auf das Recht der freien Ausübung ihrer Religion und religionskritische Satiriker auf die in der Verfassung verbürgte Meinungsfreiheit.
1948 war zum einen wertvolles, zum anderen aber fragwürdiges amerikanisches Denken in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingeflossen. Weil Juden und andere Minderheiten unter den Nazis auf das Schlimmste gelitten hatten, schien es selbstverständlich, die Unantastbarkeit von Kulturen und Religionen bedingungslos und weltweit verbindlich festzuschreiben. Dabei verdrängten die Idealisten um Eleanor Roosevelt, dass manche Kulturen und Religionen selber die Menschenrechte verletzen.Wer wörtlich an die Bibel oder an den Koran glaubt, sollte darüber nachdenken, dass das, was Moses im 4. Buch den erbarmungswürdigen Medianitern oder Mohammed in Sure 9 den «Götzendienern» anzutun befiehlt, ähnlich klingt wie 1994 der Aufruf zur Ermordung der rwandischen Tutsi. Es ist Anstiftung zur Gewalt und könnte einen heutigen Politiker vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bringen.
Dass in Büchern vergangener Zeiten Dinge stehen, die heute niemand mehr schreiben würde, überrascht nicht. Das Spezielle am Islam ist aber, dass der Koran noch im 21. Jahrhundert unter den meisten Gläubigen als das unveränderbare Wort Gottes gilt und von Primarschülern in Nordafrika, im Nahen Osten und in Zentralasien als dieses auswendig gelernt wird. Zudem ordnen Koran und Scharia nicht nur die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern bestimmen, wie die Gesellschaft insgesamt zu organisieren ist.Dies bringt islamische Staaten fast automatisch in Konflikt mit den Menschenrechten. Nur eine Reform des Islams als Ganzes könnte dies ändern. Europäische Liberale tun den wenigen religiösen Reformern in der islamischen Welt einen schlechten Dienst, wenn sie sich hinter den Begriffen «Toleranz», «Pluralität» und «Diversität» kulturalistisch wegducken und notwendige Islamkritik extremistischen Scharfmachern überlassen.
Toni Stadler studierte Kolonialgeschichte. Er hat zwanzig Jahre lang im Rahmen von IKRK-, Uno- und EDA-Missionen in verschiedenen Ländern die Frage der Menschenrechte betreut, darunter im Niger und im Irak.
Tages-Anzeiger 30.5.2016
Man muss die Entwicklungspolitik neu ausrichten
von Toni Stadler
Geht es um die Begrenzung der Bundesausgaben, ist die Internationale Zusammenarbeit ein leichtes Ziel. Wer von der Entwicklungshilfe profitiert, tritt selten in den Medien auf, zahlt hier keine Steuern, wählt keine Parlamentarier. Bei den sechs anderen Departementen sind Kürzungen ohne politischen Schaden nicht zu haben. Gleichzeitig hat die Schweiz ein Interesse an einer Welt mit weniger Gewalt und Hunger, wie es in der Begründung der Botschaft heisst. Unser Land, wirtschaftlich stark globalisiert, exportiert erfolgreich in fast alle Länder der Welt. Dazu benutzen wir See- und Luftwege, die von andern gesichert werden. An den Landesgrenzen drohen keine feindseligen Bataillone, denn die Nato, der wir nichts dafür bezahlen, schützt uns bis heute zuverlässig. Eine Nation so glücklich wie diese muss einen Beitrag leisten zur Reduktion von Gewalt und Armut anderswo. 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens sind dafür nicht zu viel. Bei einem Bundesbudget von 67 Milliarden Franken (2015) gab der Bund 95,77 Prozent seiner Steuereinnahmen für die Wohlfahrt von Schweizer Bürgern aus und 4,23 Prozent für die Internationale Zusammenarbeit (IZA).
Doch setzen wir unser Geld auch zeitgemäss ein? Stutzig macht, dass die Botschaft praktisch eine Fortschreibung der letzten ist. Business as usual, von Peru über Moçambique, Usbekistan bis Laos, als ob es keine Migrationskrise gäbe. Obwohl die irreguläre Zuwanderung inzwischen fast jedes europäische Land politisch destabilisiert hat. Der Bevölkerungsdruck auf Europa ist kein vorübergehendes Phänomen. Das erbitterte Ringen in der arabischen Welt zwischen Volk und ungewählten Herrschern, Tradition und Moderne, Gottesstaat und säkularem Staat wird noch Jahrzehnte weitergehen. Mit Auswanderung sind diese Probleme nicht zu lösen. Dazu wird der Klimawandel vor allem in den Sahel-Ländern weitere Migrationsschübe auslösen. Konzentriert sich die Internationale Zusammenarbeit nicht stärker auf diese Herausforderungen vor den Haustüren Europas, läuft sie Gefahr, die Unterstützung durch die Steuerzahler zu verlieren.
Die Botschaft des Bundesrats setzt, so wie die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UNO, keine echten Prioritäten. In ihre 5 strategischen Ziele passt alles hinein, von Armutsreduktion bis zur Pflege einheimischer Kulturen. Es gibt kaum ein Problem, welches die Schweizer Entwicklungspolitik nicht zu lösen verspricht. Das Programm der kommenden vier Jahre ist thematisch, geografisch und organisatorisch verzettelt. Sorgfältig gezählt, sind Schweizer IZA-Fachleute in mindestens 80 Ländern an der Arbeit. Obwohl wir via UNO, Weltbank und regionale Entwicklungsbanken bereits in sämtlichen Entwicklungsländern engagiert sind. Es ist an der Zeit, die mehr als 50-jährige Auslandhilfe stärker den Bedürfnissen des europäischen Umfelds anzupassen. Was konkret heisst, die Schweizer IZA auf die Regionen zu konzentrieren, von wo die meisten irregulären Zuwanderer kommen oder in Zukunft kommen könnten: die Sahel-Zone, Nordafrika, den Nahen Osten, Westasien. Und zwar für Friedensdiplomatie, gewaltfreie Konfliktlösung, humanitäre Hilfe, Flüchtlingsunterhalt in den Nachbarländern von Kampfzonen, bessere Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft, Förderung der Naturwissenschaften und des Ingenieurwesens, Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit in den Städten, Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel. Eine mutige Weichenstellung in diese Richtung würde zudem die richtigen Signale an die grossen Entwicklungsagenturen der Europäischen Union senden.
Toni Stadler hat 25 Jahre in verschiedenen Ländern bei IKRK, UNO und EDA/Deza gearbeitet, zuletzt als Leiter der Deza-Abteilung «Analyse und Politik».
NZZ 24.10.2017
Schule und Weltverbesserung:
Durch Veganismus die Welt retten?
von Toni Stadler
Einem Vater von zwei Heranwachsenden fällt auf, dass an den Schulen des rot-grün regierten Lausanne kaum Zeit aufgewendet wird für die Kenntnis internationaler Institutionen wie UNFCCC, WHO, FAO, Weltbank, die beauftragt sind, globale Probleme zu lösen. Und schon gar keine Zeit für Konzerne, welche mit technischen Innovationen die Umweltzerstörung angehen. Dafür wird in Klassenzimmern ausführlich darüber diskutiert, worauf wir verzichten sollten, damit es nebst den Menschen vor allem den Tieren weniger schlechtgeht: Studenten, wenn ihr keine tierischen Produkte konsumiert, leiden Bienen, Hühner, Fische, Rinder nicht mehr. Weniger viehisches Methan bremst den Klimawandel. Kein Tierfutteranbau stoppt die Entlaubung tropischer Wälder. Kein Sojamehl für unsere fetten Kühe reduziert den Hunger in Ländern mit mageren Kühen. Ohne Nutztiere wird die Resistenz gegen Antibiotika verschwinden. Und alle Menschen werden glücklicher, gesünder, länger leben. Für Verzichtspädagogen gibt es – ausser dem Weltfrieden – kaum eine globale Aufgabe, die nicht durch Askese gelöst werden könnte.
«Die einzige artgerechte Tierhaltung ist die Freilassung», heisst es auf veganen Websites. Damit wird ein verdrehtes Bild der Tierwelt verbreitet. Denkt man etwas genauer über die freie Wildbahn nach, sieht man, dass dort, ob im Meer, auf dem Land oder in der Luft, zwar Freiheit herrscht, aber auch die permanente Sorge, kein Futter zu finden oder gefressen zu werden. Safaris und Naturfilme zeigen es: Ein Zebra mit gebrochenem Bein, umringt von hungrigen Hyänen. Eine Antilope, bis zur Erschöpfung gehetzt, von Löwen erstickt oder noch lebend angefressen. Ein Büffel, zu alt, um wegzurennen, von einem Rudel afrikanischer Jagdhunde zerrissen. Und kein veganer Peace-Keeper stellt sich dazwischen. Damit verglichen, sieht der Abschuss eines Wildschweins durch einen Jäger und selbst die professionelle Schlachtung eines Tieres in der Metzgerei gnädig aus. Fazit: Falls es um das Vermeiden von Tierleid geht, kann mindestens Wildfleisch mit Genuss verspeist sowie Fell und Haut ohne schlechtes Gewissen für Schuhe oder Handtaschen gebraucht werden.
Bei unfrei lebenden Nutztieren wird es komplizierter. Wenige Städter kennen einen Landwirtschaftsbetrieb von innen. Die allermeisten Bauern sorgen sich um das Wohl ihres lebenden Besitzes. Nicht nur, weil Verletzung und Krankheit Geld kosten, sondern auch, weil sie ihre Tiere gern haben. Kein Bauer oder Metzger hat Freude bei der Schlachtung. Tiere sind schmerzempfindliche Wesen, da haben die Veganer recht. Doch fehlt ihnen ein Bewusstsein, eine Vorstellung vom Tod, deshalb kennen sie nicht dieselbe Todesangst wie wir. Bauern, Fischer, Metzger, Käser und Seidenraupenzüchter in die Nähe von Henkern zu rücken, wie das gewisse vegane Websites tun, ist eine herzlose Frechheit. Natürlich wissen auch Fleischesser, dass es in der Massentierhaltung Praktiken gibt, die tierquälerisch sind. Dies zu korrigieren, ist Aufgabe staatlicher Aufsicht, nicht des Konsumenten. Wegen Tierquälerei die ganze 10 000-jährige zivilisatorische Errungenschaft der Nutztierhaltung und damit die ausgeklügelten Speisezettel von weltweit Hunderten raffinierter Esskulturen aufgeben zu wollen, ist weltfremd.
Weniger Fleisch essen, auf grosse Autos verzichten, seltener ein Flugzeug benutzen ist in Ordnung. Eigentlich. Fragwürdig wird es, wenn junge Menschen den Eindruck vermittelt bekommen, damit hätten sie einen ausreichenden Beitrag zur Verbesserung der Welt geleistet. Und fragwürdig wird es, wenn bequeme Regierungen und eine schlecht funktionierende Staatengemeinschaft ihre Verantwortung für die Lösung globaler Aufgaben auf die sich unvernünftig verhaltenden Konsumenten abschieben. Etwa in der Art: Wer weiterhin Sashimi isst, macht sich schuldig am Aussterben des Roten Thunfischs. Damit werden unsere Schüler abgelenkt, wenn nicht depolitisiert, weil untergeht, dass es direkte politische Vorgehensweisen gibt, Tierleid zu mindern oder die Artenvielfalt durch ein Verbot der Überfischung zu schützen. Weltverbesserung durch Verzicht hat Grenzen. Erfahrungsgemäss sind weniger als 10 Prozent der Bevölkerung bereit, freiwillig auf Komfort oder Genuss zu verzichten. Bei Konzernen setzt die internationale Konkurrenzfähigkeit die Grenzen für freiwilliges Gutes-Tun. Die grossen Herausforderungen unserer Zeit können nur durch Regierungen und Konzerne gemeinsam gelöst werden, multilateral also, trotz oder gerade wegen Donald Trump. Durch Besteuerung und Bestrafung von schädlichen oder unethischen Praktiken, durch technische Innovation, durch internationale Abkommen und Regelungen, welche für alle Regierungen und jeden Konzern gelten. Dafür sollten sich die Lehrer an unseren Schulen starkmachen.
Toni Stadler, Historiker, arbeitete 25 Jahre bei internationalen Organisationen, u. a. beim UN Global Compact an der freiwilligen Verantwortlichkeit globaler Konzerne.
NZZ 19. Dezember 2017
Fremde Richter:
Selbstbestimmung und Globalität
von Toni Stadler
Vom Mittelalter kann man leicht das Falsche lernen. Wie selbstbestimmt die Eidgenossen von 1291 lebten, sei spezialisierten Historikern überlassen. Die Schweiz nach Napoleon war sicher nie autonom. Exporte und Importe werden in Schiffen und Flugzeugen transportiert, die nach den Vorschriften der IMO und der Icao operieren, geschützt von Streitkräften, auf die wir keinen Einfluss haben. Der internationale Zahlungsverkehr, die Mobiltelefonie, das Internet funktionieren nach fremden Normen. Ein Exportland mittlerer Wirtschaftsgrösse wie die Schweiz hängt von interstaatlichen Verträgen ab, die für alle gelten. Die SVP-Selbstbestimmungsinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», die im nächsten Jahr zur Abstimmung kommt, verteidigt eine autonome Schweiz, die es nie gegeben hat.
Zweifellos haben die meisten Stimmbürger dieser Initiative aus ehrlicher Sorge um die Unabhängigkeit der Schweiz unterschrieben. Ihnen ist unbehaglich, wenn sich ihr Justizsystem nach Gesetzesparagrafen richten muss, an deren Ausarbeitung unser Land nicht beteiligt war. Kaum jemand hat Mühe mit Völkerrecht, das auf eigenem Boden gewachsen ist, die Genfer Konventionen etwa, Henry Dunant, das Rote Kreuz, unser Stolz. Es stört auch niemanden, dass die fremden Examinatoren der OECD jährlich die Schweizer Wirtschaft benoten. Anders bei den Menschenrechten. Dass sie bis heute als etwas Ortsfremdes wahrgenommen werden, hat mit unserer Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Als 1948 die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde, war die Schweiz nicht in der Uno. Als 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedet wurde, war die Schweiz nicht im Europarat. Die Schuld dafür liegt bei unseren Grossvätern und Vätern, welche – ohne die Frauen zu konsultieren – zu lange an einer veralteten Selbstbestimmungsidee festgehalten hatten.
Bürgerliche Rechte sind nicht selbstverständlich. Bei mir brauchte es einige Jahre Berufsarbeit im Irak, in Kambodscha oder Ex-Zaire um zu spüren, was es für Einheimische bedeutete, lebenslang Angst vor Soldaten, Polizisten, Bürgermeistern, Steuerbeamten zu haben. Von der amerikanischen «Bill of Rights», der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte bis zur EMRK ging es darum, den Bürger und sein Eigentum vor dem Staat zu schützen und gewisse Grundrechte den Mehrheitsentscheidungen der damals neu eingeführten Demokratie zu entziehen, indem man sie als «unverlierbar» bezeichnete. Wir verdanken einen guten Teil unseres sorglosen Lebens einem Staat, der die bürgerlichen Rechte einzuhalten gezwungen ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg wacht über die Einhaltung der EMRK auf dem gesamten Gebiet der 47 Mitgliedstaaten des Europarats. Kritik von freundlicher Seite verbessert selbst unser Justizsystem. Und Richter aus etwas Distanz sind weniger voreingenommen als Richter, die im gleichen Tennisklub verkehren wie ihre Angeklagten.
Hinter dem Scheinproblem «Fremde Richter» steckt aber ein wirkliches: Einzig in der Schweiz wird das Volk bis zu viermal pro Jahr gefragt, ob es die Verfassung abändern wolle. Bei der Einführung der Volksinitiative 1891 gab es nur ganz wenige Konventionen. Deshalb blieb ungenau geregelt, was zu tun ist, wenn ein Initiativtext geltende internationale Verträge bricht. Völkerrechtlich fragwürdige Volksbegehren zur Abstimmung zuzulassen, um sie im Fall der Annahme «weich» umzusetzen, provoziert die Isolationisten. Besser wäre, noch vor der Abstimmung durch das Parlament präziser zu regeln, welche Kategorien von internationalen Verträgen in der Schweiz als zwingendes Völkerrecht gelten, also künftig nicht mehr durch Volksinitiativen infrage gestellt werden dürfen.
Toni Stadler, Historiker, hat 25 Jahre bei IKRK, Uno, OECD, EDA/Deza gearbeitet, unter anderem an der Förderung des Rechtsstaats und der Menschenrechte.
NZZ 10. März 2018
Menschlichkeit, kurzfristig, langfristig:
Die Flüchtlingskonvention der Gegenwart anpassen
von TONI STADLER
Die Flüchtlingskonvention von 1951, unter dem Eindruck des Holocaust und dem Rückstrom von 14 Millionen vertriebener Deutscher aus Osteuropa geschrieben, bezog sich auf Ereignisse, die vor 1951 in Europa eingetreten waren. Sie verbot, Vertriebene am Arbeitsplatz, bei Sozialleistungen oder in ihrer Bewegungsfreiheit anders zu behandeln als niedergelassene Ausländer. Das Protokoll von 1967 erweiterte diesen Grundsatz auf sämtliche Unterzeichnerländer und Konflikte nach 1951 rund um die Welt. Die Sogwirkung der so globalisierten Konvention auf Nichtverfolgte hat damals wohl niemand vorausgesehen. Getrieben von einem lukrativen Schleppergewerbe und dem Wunsch nach einem besseren Leben, beruft sich heute eine Minderheit von Verfolgten, Kriegsvertriebenen und Auswanderern auf dieses eine Vertragswerk. Schaffen sie es bis Europa, wartet hier ein Asylverfahren, das im Schengen-Raum Zehntausende von Juristen, Sozialarbeiter, Polizisten beschäftigt.
Selektiv angewandte Konvention
Ein wachsender Teil der Kosten wird als Entwicklungshilfe deklariert, fehlt also in den Ländern und Flüchtlingslagern, woher Asylsuchende kommen. Viele werden vorläufig aufgenommen, die Kinder gehen zur Schule, lernen die Sprache und leben dem gefürchteten Tag der Ausschaffung oder des Abtauchens in die Illegalität entgegen. Mit der vordergründig korrekten Umsetzung der Flüchtlingskonvention hat sich Westeuropa politisch verrannt. Wichtigeres bleibt liegen: die Beendigung der Bürgerkriege; der Abbau der globalen Einkommensunterschiede; die Führungsrolle beim Klimawandel. Weder der Rechtsrutsch in europäischen Ländern noch der Brexit haben eine Initiative zur Revision der Konvention ausgelöst. Dabei gibt es seit langem Kritiker innerhalb und ausserhalb des UNHCR. 2001 rief Labour-Aussenminister Jack Straw zu einer Revision des Vertragswerks auf, mit dem Ziel, den rechtlichen Status von Verfolgten, Kriegsvertriebenen und Migranten in Nachbarländern zu bestimmen. 2015 machte der dänische Premierminister Lars Lokke Rassmussen der Europäischen Union einen ähnlichen Vorschlag. Ohne Folgen. «Wir müssen unsere internationalen Verpflichtungen wahrnehmen», sagen frühere Arbeitskollegen, die heute beim UNHCR und im Staatssekretariat für Migration arbeiten. Selbstverständlich, doch es gibt verschiedene Arten, dies zu tun. Ein Blick auf die grossen Flüchtlingsbewegungen seit 1951 zeigt, dass die Konvention selektiv angewendet wurde. Glück hatten die Ungarn 1956, die Tibeter 1959, die Tschechen 1968, die vietnamesischen Boatpeople 1975 und danach. Wer vor dem Kommunismus floh, war im Kalten Krieg fast automatisch ein anerkannter Flüchtling. Weil die Herkunftsländer ihre Grenzen für Auswanderer abriegelten, führte die korrekte Anwendung des Übereinkommens nicht zum Nachzug von Millionen Menschen.
Nur noch im Schengen-Raum
Dann kam die Wende. Zwischen 1987 und 1997 hatte ich für IKRK, UNDP und UNHCR ausschliesslich in Ländern gearbeitet, welche die Flüchtlingskonvention grob verletzten. Ob sie Unterzeichnerstaaten waren oder nicht, machte keinen Unterschied. Die mehr als eine Million Kambodschaner, die 1979 nach Thailand flohen und die – weil mehrheitlich Bauern – niemand wollte, wurden nicht vom UNHCR, sondern von einer ad hoc gegründeten UNDP-Organisation versorgt und damit den Flüchtlingsrechten entzogen. Eine Weiterreise in den Westen war die Ausnahme. Den intern vertriebenen Schiiten und Kurden des Zweiten Golfkriegs 1990/91 wurde die Ausreise ins sichere Ausland versperrt. Durch das UNHCR versorgt, lebten sie in Schutzzonen, bis zur freiwilligen Rückkehr in ihre Dörfer und Städte. Die 2 Millionen rwandischer Hutu, die 1994 nach Zaire und Tansania flohen, wurden – weil mit dem Genozid assoziiert – nicht einmal mehr als Flüchtlinge registriert. Eine Umsiedlung in den Westen gab es nur für Personen mit Geld, Beziehungen und in raren humanitären Fällen. 1998 wurden diese 2 Millionen Menschen unter den Augen des UNHCR zwangsrepatriiert. Parallel zu den Verletzungen der Konvention im Süden verschärfte die Europäische Union während der Jugoslawienkriege ihre Flüchtlingskriterien, etwa durch die Einführung des Begriffs «vorläufige Aufnahme», den es im Vertragstext nicht gibt. Mit der «Illegal Immigration Act» von 1996 hebelten die USA das Protokoll von 1967 praktisch aus. Und Australien hätte die Konvention eigentlich längst kündigen müssen. All dies bedeutet nicht, es dürfe zur Norm werden, die Flüchtlingskonvention zu verletzen. Doch wenn der gültige Vertrag fast nur noch im Schengen-Raum angewendet wird, zieht das Leute von überall an. Und wenn staatstragende Parteien so tun, als setzten sie die Konvention korrekt um, aber in Wahrheit alles unternehmen, um Asylsuchende abzuschrecken, werden sie unglaubwürdig. Ein internationales Abkommen, das zunehmend gebrochen wird, um zu verhindern, dass Europa wegen der Folgen unkontrollierter Einwanderung in den Rechtspopulismus abdriftet, muss revidiert werden, will man internationales Recht in die Zukunft retten.
Was für eine Flüchtlingskonvention brächte langfristig mehr Menschlichkeit?
Die Regierungen der Vertragsstaaten müssten davon ausgehen, dass gesellschaftliche Spannungen, Geburtenüberschüsse, Landflucht wegen Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Geldnot, Homophobie, Benachteiligung der Frau nicht durch die Verschiebung ganzer Bevölkerungsgruppen in offene Gesellschaften lösbar sind. Nur besseres Regieren und Wirtschaften nach dem Beispiel Ostasiens, verbunden mit Investitionen und einer wirksameren Entwicklungszusammenarbeit, könnte das. Darauf sollten sich die Anstrengungen der wohlhabenden Welt konzentrieren. In der neuen Konvention würden Kriegsvertriebene und Verfolgte in sicheren Zonen und Auffanglagern benachbarter Länder untergebracht, wie heute schon in Jordanien oder in der Türkei. Die Nachbarländer wären verpflichtet, sichere Zonen und Auffanglager guter Qualität zur Verfügung zu stellen. Die Staatengemeinschaft würde verpflichtet, die Kosten dafür zu tragen. Geflüchtete blieben in Kontakt mit der Heimat, könnten sich organisieren, einen politischen Kampf führen zur Verbesserung der Lage im Herkunftsland und sich auf die Repatriierung vorbereiten. Sie behielten Rechtsschutz, aber nicht mehr in jedem Unterzeichnerstaat. Refoulement bliebe verboten. Geflohene hätten das Recht, an einer Anlaufstelle oder bei Botschaften im Nachbarland Asylanträge für Drittländer zu stellen.
Eine Balance ist gefragt
Im Gegenzug wäre es Unterzeichnerstaaten ausserhalb der Region erlaubt, Asylsuchende ohne definierten Status abzuweisen und in Auffanglager zurückzuschaffen. «Das ist unmenschlich», werden viele sagen. Doch in der heutigen Situation geht es um eine Balance zwischen kurzfristiger Menschlichkeit in der Asylunterkunft und langfristig menschlichen Zuständen in den armen Ländern vor der Haustüre Europas. Eine polarisierte Debatte zwischen selbstgerechten Linken, die illegales Einwandern im Namen der Menschlichkeit gedankenlos gut finden, und abwehrbereiten Rechten, die generell keine Immigranten aus Entwicklungsländern wollen, sollte sich Europa nicht länger leisten. Der Ausweg kann nur eine neue Flüchtlingskonvention sein, die von den Unterzeichnerstaaten und vom UNHCR einhaltbar ist, gekoppelt mit einer energischen Entwicklungspolitik aller DAC-Länder, die den Rückstand Afrikas und des Nahen Ostens beseitigen hilft.
Toni Stadler, Historiker und Buchautor, arbeitete 25 Jahre bei IKRK, UNDP, UNHCR, OECD und EDA/DEZA, u. a. in Flüchtlingslagern in Thailand, Kambodscha, im Irak, im früheren Zaire, in Angola und Rwanda.
NZZ 12. Mai 2018
Konzernverantwortungsinitiative:
Für einen Gegenvorschlag
von Toni Stadler
So wie die Konzernverantwortungsinitiative formuliert ist, steht uns ein polarisierter Abstimmungskampf zwischen Konzernkritikern und Konzernverteidigern mit ungewissem Ausgang bevor. Noch ist Zeit für einen Gegenvorschlag. Im November 2017 hatte die Rechtskommission des Nationalrates entschieden, einen indirekten Gegenvorschlag des Ständerats abzulehnen, mit der Begründung: «Die Rechtskommission will Unternehmen mit Sitz in der Schweiz nicht vorschreiben, Menschenrechte und Umweltschutz auch im Ausland zu respektieren.»
Ein ungeschickter Satz, im Grunde eine Einladung zu unethischen Geschäftspraktiken. Solches geht hinter das Erreichte zurück und unterschlägt, dass eine Mehrheit multinationaler Konzerne – einschliesslich fast aller Schweizer Blue-Chip-Unternehmen – seit 20 Jahren im Rahmen der Corporate Social Responsibility (CSR) engagiert daran gearbeitet haben, Menschenrechte, Arbeitsrechte und die Umwelt auch dort zu schützen, wo die Regierung des Gastlandes wegschaut.
Grosskonzerne von Nike über H&M bis Airbus schulen ihre Führungskräfte an der praktischen Umsetzung der 10 Prinzipien des Global Compact der Uno. Sie stellen Personal an, um zusammen mit NGO-Vertretern ihre Lieferantenketten auf Kinderarbeit und Umweltverschmutzung zu inspizieren. Sie lassen Uno-Beamte ihre Betriebe besichtigen. Sie berichten jährlich über gemachte Fortschritte und Pläne für künftige Verbesserungen. In afrikanischen Niederlassungen europäischer Konzerne, Nestlé als Beispiel oder Holcim, sind die Arbeitsbedingungen in der Regel besser als bei einheimischen Betrieben. Airbus produziert die A320 in Tianjin zwar mit tieferen Löhnen, aber nach den gleichen Umweltstandards wie in Toulouse.
Die CSR ist besser, als viele Kritiker wahrhaben wollen. Dieses Bestreben ist keineswegs selbstlos. Moderne Grossunternehmen wollen als Teil der Lösung globaler Probleme betrachtet werden, wollen ihre Brands skandalfrei halten, wollen ihr Personal spüren lassen, bei einer fortschrittlichen Firma angestellt zu sein, und wollen nicht zuletzt für ethische Anlagefonds attraktiv bleiben. Multinationale Konzerne haben Einfluss. Das bringt Verantwortung, heisst aber nicht, Konzerne hätten die Macht, in China das Menschenrecht Meinungsäusserungsfreiheit oder in Saudiarabien die Geschlechtergleichbehandlung vor dem Gesetz durchzusetzen.
Die Konzernverantwortungsinitiative vermischt Probleme, die auf dem Weg zur Lösung sind, mit Problemen, die dringend angepackt werden sollten. Ein Ja ohne Gegenvorschlag würde das Gros der Schweizer Konzerne dazu zwingen, zum Beispiel die Herkunft der Rohstoffe (etwa einer BOBST-Verpackungsanlage) zu überprüfen, aber kaum mehr Menschlichkeit bringen, als mit Corporate Social Responsibility in den meisten Ländern erreicht wird. Ein Nein ohne Gegenvorschlag liesse das Geschäft mit Rohstoffen aus gesetzlosen Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo oder Libyen weiterhin ungenügend reguliert.
Der Gegenvorschlag müsste sich auf Hochrisikobranchen, primär die Förderung und den Handel mit Konfliktmineralien wie Coltan, Diamanten, Kassiterit, Cobalt, Zinn, Wolfram, Gold konzentrieren. Hier wäre ein Schweizer Alleingang richtig und staatspolitisch klug. Weil unser Land fast die Hälfte der grössten Unternehmen dieses wachsenden Sektors beherbergt, die meisten davon am Genfer See. Weil auf wenig bekannten Firmen wie Trafigura, Vitol, Mercuria, Gunvor kaum Druck herrscht, sich zum Schutz eines Brands selber zu beschränken. Weil Menschenrechtsverletzungen ein Reputationsrisiko für unser Land und für seine Traditionskonzerne sind. Und weil eine Sorgfaltsprüfung bei Rohstoffen – im Gegensatz zu Fertigprodukten – ohne unvernünftigen Mehraufwand möglich ist.
An Ideen, wie man es korrupten Regierungen und Warlords schwieriger machen könnte, Bodenschätze an Bevölkerung und Staatskasse vorbei ausser Landes zu schaffen, fehlt es nicht. Transparenz ist das Mindeste, was der Gesetzgeber einfordern muss, überwacht durch eine Schweizer Rohstoffaufsichtsbehörde oder einen anderen Mechanismus. Dazu gibt es den Kimberly-Prozess für Blutdiamanten, die Dodd-Frank Act für die DRK, die EU-Verordnung 2017/821, hinter die ein Schweizer Gegenvorschlag nicht zurückfallen dürfte: Sorgfaltsprüfungspflicht, öffentliche Ersteigerung von Schürfrechten, Zugang zu den Minen, Ursprungszertifikate, Zahlungstransparenz entlang der Produktions- und Handelskette.
Selbst wenn der Gegenvorschlag oder die Initiative durchkäme, wäre es naiv zu glauben, das Problem vor Ort sei damit gelöst. Verantwortlich für die Führung eines Staatsapparates, die Einhaltung der Menschenrechte und den Schutz der Umwelt bleibt die nationale Regierung. Schlechtes Regieren mit einem Rohstoff-Fluch zu entschuldigen, ist Unsinn. Botswana, Norwegen und andere zeigen, wie Reichtum aus dem Boden zum Nutzen der ganzen Gesellschaft verwendet werden kann. Diesen Reichtum für Afrikas Fortschritt nutzbar zu machen, bleibt die wichtigste Aufgabe einer Entwicklungspolitik, die ihren Namen verdient.
Toni Stadler arbeitete bei IKRK, Uno, OECD und Deza, unter anderem vier Jahre als Leiter der Abteilung Lokale Konzernnetzwerke des UN Global Compact in New York.
NZZ 22.06.2018
Internationale Zusammenarbeit und Migration:
Das Schweigen der Entwickler
von Toni Stadler
Es ist Jahrzehnte her, dass sich ein Deza-Direktor oder eine EDA-Chefin selbstkritisch zur Anpassung der Auslandhilfe an die Herausforderungen der Gegenwart geäussert hat. Falls Entwicklungszusammenarbeit heute noch Wellen schlägt, ist das im alljährlichen Budgetverteilkampf des Bundes oder wenn es irgendwo einen Skandal gibt.Das Engagement für weniger Ungleichheit zwischen Arm und Reich wird heute von einer selbstzufriedenen Hilfsmaschine verwaltet, die in vertrauten Geleisen fährt und schweigt. Eine Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit ist überfällig. Weil die steigenden Ausgaben des Staatssekretariats für Migration – als Official Development Assistance verrechnet – zur Ausdünnung des über 60 Länder verzettelten Programms 2017–2020 führen; weil Integrationsprobleme, Klimawandel und der Rechtsnationalismus die Agenda des Parlaments setzen und damit die politische Abstützung verloren zu gehen droht; und weil die gegenwärtige Auslandhilfe nicht effizient genug auf die Hauptgründe des afrikanischen und teilweise des arabischen Rückstands (Geburtenüberschuss, Arbeitslosigkeit, Rechtsunsicherheit, fehlende Investitionen) eingeht, sondern an einer nebulösen Formulierung von Armutsreduktion aus den 1970er Jahren festhält. Eine Neuausrichtung müsste zwei Jahre vor der Verabschiedung der Botschaft 2021–2024 durch die Beratende Kommission und die Aussenpolitische Kommission eingeleitet werden. Folgendes steht dabei im Zentrum:
Erstens: Klarheit in der Begründung. Dass die wohlhabende Schweiz das Leid von Kriegsvertriebenen, Opfern des Klimawandels oder von Naturkatastrophen zu lindern hilft, ist selbstverständlich. Dazu ist die humanitäre Hilfe da. Die Migrationswellen der vergangenen Jahre haben Europäern bewusst gemacht, dass die Probleme der Arbeitslosigkeit und schlechter Lebensbedingungen in Ländern mit niedrigen Einkommen nicht durch Massenauswanderung gelöst werden können. Nur Stabilität, tatkräftig umgesetzte Modernisierungspläne und Investitionen, verbunden mit einer Integration in die regionalen und globalen Produktionsketten wie in Ostasien, schaffen Arbeitsplätze und Einkommen vor Ort. Dies mit friedenspolitischen, technischen und wirtschaftlichen Massnahmen zu unterstützen, ist die Aufgabe der bilateralen Hilfe.
Zweitens: Fokus der humanitären Hilfe auf Migrantenunterhalt und Repatriierung. Nach der Wende 1989 hatten viele dem Entwicklungshilfeausschuss (DAC) der OECD angehörende Länder die technische Hilfe auf Kosten der humanitären Hilfe ausgebaut. Die Friedensdividende entpuppte sich als Illusion. Heute fehlt es an Geld für die Versorgung von Zivilisten in Kriegsgebieten und für menschenwürdige Flüchtlingssiedlungen in der Nähe der Ursprungsländer. Die gegenwärtige aufgeregte Asyldiskussion lässt leicht vergessen: Nur wenige der weltweit 60 Millionen Vertriebenen und Armutsmigranten können dauerhaft in ein Industrieland umziehen. Die Mehrheit muss temporär an sicheren Orten unter annehmbaren Bedingungen leben können, sich auf die Repatriierung vorbereiten und nach ihrer Rückführung beim Wiederaufbau unterstützt werden. Diese Art von humanitärer Hilfe sollte in den kommenden Jahren ausgebaut werden.
Drittens: Fokus der bilateralen Hilfe auf die instabile Nachbarschaft. Gemeint sind die Sahelzone, der arabische Raum und Teile Südwestasiens, woher die meisten Migranten kommen. Manche der Deza-Schwerpunktländer in Ostasien, Lateinamerika und in der Karibik sind Relikte aus einer Zeit, da die Schweiz Entwicklungszusammenarbeit zur globalen Beziehungspflege einsetzte. Armen Menschen – für welche eigentlich die einheimische Regierung verantwortlich ist – aus 10 000 Kilometern direkt zu helfen, ist teure Sozialarbeit. Ländern wie Laos, Kambodscha, Burma könnte von Gebern in der Region, China, Taiwan, Japan, Singapur, effizienter geholfen werden. Und für die bedürftigen Länder Lateinamerikas wären Brasilien, Argentinien, Kanada und die USA besser platziert. Aus den Seco-Schwerpunktländern mittleren Einkommens – Ägypten, Ghana, Indonesien, Kolumbien, Peru, Südafrika, Tunesien und Vietnam – sind mit Ausnahme Ägyptens keine Armutsmigranten zu erwarten. Eine gut geplante Halbierung der Anzahl an internationaler Zusammenarbeit teilhabender Landesprogramme in entfernten Weltregionen würde Mittel und Personal freimachen für ein wirksames Engagement in der Nachbarschaft Europas.
Viertens: Langzeitprojekte auslaufen lassen. Projekte ohne Exit-Strategie sind so schädlich wie lebenslanger Sozialhilfebezug für arbeitsfähige Menschen. Das Entwicklungsprogramm der Uno (UNDP) wurde 1965 als befristetes «Programm» geschaffen, weil man damals annahm, die neu unabhängig gewordenen Länder würden bis spätestens zur Jahrtausendwende ihren Rückstand aufgeholt haben und damit das UNDP überflüssig machen. Dies geschah in Ostasien, nicht in Afrika. Der Grundgedanke aber bleibt aktuell: Was ein Projekt auslöst, muss nachhaltig sein, die Präsenz des Unterstützers nicht. Deza und Seco führen zu viele jahrzehntelang unterstützte Projekte und Programme. Seit den 1960er Jahren werden in Nepal Bergstrassen und Hängebrücken gebaut. Wäre es nicht Zeit, der nepalesische Staat übernähme diese Aufgabe? Seit 1991 gibt es in zentralasiatischen Staaten und auf dem Balkan Programme für die Transition von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft. Wäre es nicht Zeit, dass sich die meisten unter ihnen ihre technische Hilfe auf dem Weltmarkt kaufen?
Fünftens: andere Personalprofile rekrutieren. Generalisten (ich war einer) haben ein breites Wissen, sind aber in keinem Beruf wirklich kompetent. In den vergangenen Jahrzehnten sind zu viele Geistes- und Sozialwissenschafter in Entwicklungsberufe umgestiegen. Als ich 2013 die Deza verliess, gab es dort viele Ethnologen, Soziologen, Historiker, Germanisten, aber kaum jemanden mit Managementerfahrung und nicht einmal mehr einen einzigen Arzt. Dem sollte gegengesteuert werden. Es braucht mehr Ökonomen mit Praxisbezug, Finanzplaner, Staatsrechtler, Steuerexperten, Gesundheitsmanager, Schulverwalter, Agronomen, Bodenrechtspezialisten – alles Berufe, die es in jeder Kantonsverwaltung gibt. Denkbar sind Modelle mit weniger Strukturpersonal. Fachleute aus Bund und Kantonen könnten sich für dreimonatige Einsätze zur Verfügung stellen, so wie dies das IKRK mit Chirurgen und Krankenschwestern in Konfliktgebieten tut.
Sechstens: die multilateralen Institutionen aufrütteln. Es brauchte den Ansturm von Afrikanern, um Europäer daran zu erinnern, dass die Migrationskrise eine Entwicklungskrise ist. Die Lage in der Sahelzone zwischen Mali und Somalia darf nicht länger mit kleinen lokalen Entwicklungserfolgen schöngeredet werden. Zu den bekannten afrikanischen Schwächen – tiefem Steueraufkommen, veraltetem Landrecht, hohem Bevölkerungswachstum, Jugendarbeitslosigkeit, fehlender ruraler Elektrifizierung, Rechtsunsicherheit für Investoren und Geschäftsleute – kommen noch die küstenferne Lage und das unwirtliche Klima hinzu. Die Flucht aus Afrika und aus manchen Teilen der arabischen Welt ist vorprogrammiert. Sie ist das Resultat schlechter Staatsführung und einer basisfixierten Prioritätensetzung der Entwicklungsagenturen. Begrenzbar ist die Armutsmigration nur mit kontrollierten Aussengrenzen und Visa auf dem Botschaftsweg. Dies ist politisch und menschlich vertretbar, wenn Europa gleichzeitig Hand bietet zu einer echten Modernisierung der Region, wirtschaftlich, rechtsstaatlich, sozial. Vorstellbar ist solches nur als Gemeinschaftsprojekt der Industrieländer, unter Mithilfe der Weltbank, der African Development Bank, von UNDP und Europäischer Kommission. Dort schweigt man, weil es als unfein gilt, «selbstlose» DAC-Hilfe im Umfang von 140 Milliarden Dollar pro Jahr offen mit Migrationsbegrenzung zu verknüpfen. Wie lange noch?
NZZ 17.08.2018
Aufgeheizte Debatte um die Zugewanderten:
Die inflationäre Rede von Rassismus ist kontraproduktiv
von Toni Stadler
In Laupheim, eineinhalb Bahnstunden von Friedrichshafen, gibt es das Museum zur Geschichte von Christen und Juden. Ein Besuch lohnt sich aus zwei Gründen: Die Ausstellung illustriert mit Texten und Bildern in hervorragender Weise das fast 300-jährige Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit. Und die Ausstellung macht gleichzeitig bewusst, dass es falsch ist, daraus Parallelen zu ziehen zu Zwecken des Widerstands gegen die heutige Zuwanderung. Staatlich verordneter (alter) Rassismus wie Sondersteuern für Juden in Deutschland, die Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung in den USA, das Nürnberger «Blutschutzgesetz» von 1935 ist nicht vergleichbar mit dem Ärger eines afrikanischen Zuwanderers, welcher bei der Arbeitsplatzsuche Diskriminierung, also neuen Rassismus, erlebt.
Rassismus ist nicht eine Krankheit am politisch rechten Rand. Dazu ist er zu weit verbreitet. In Ostasien gibt es ein stufenweises Herabsehen von bleichen chinesischen Milchtrinkern nahe der Mongolei auf die leicht dunkleren Südchinesen und von dort auf die Kambodschaner bis ganz hinunter auf die Indonesier. Japaner haben Vorurteile gegen Chinesen, Chinesen gegen Inder. Iraner sehen auf die Araber herab, Araber auf die grossgewachsenen Schwarzen am Horn, jene auf die kleingewachsenen Bantu weiter südlich der Sahara.
Diese Sorte Rassismus kann als die böse Schwester des Gemeinsinns betrachtet werden. Um einig und stark zu sein, schrieben sich Stammesverbände, Völker, Nationen grandiose Eigenschaften zu und schlossen damit all jene aus, die nicht so waren wie sie. Dieses tief sitzende Ur-Verhalten, einst nützlich, heute destruktiv, bleibt jederzeit abrufbar.
Die Ideologie des Imperialismus
Völker, die man unterwerfen wollte, als minderwertig oder unzivilisiert zu bezeichnen, war eine verbreitete Rechtfertigung, dies zu tun. Im 19. Jahrhundert unterwarfen die Grossmächte Europas die letzten weissen Flecken auf dem Globus. Rassentheoretiker von Arthur de Gobineau über Houston Stewart Chamberlain bis Madison Grant stellten Ranglisten auf, mit den Weissen zuoberst und den Pigmentierten zuunterst. Ihre Bestseller – alle auf Deutsch übersetzt – wurden in bildungsnahen Haushalten beidseits des Atlantik gelesen. Sie stützten das Recht der Weissen, zu herrschen und die Kolonisten rechtlich besserzustellen als die Kolonisierten, moralisch ab.
Ihr Einfluss auf die Rassentrennung in den USA, die Eugenik und später via Alfred Rosenberg auf den Nationalsozialismus war beträchtlich. Als der berühmteste Jude aus Laupheim, Carl Laemmle, Ende des 19. Jahrhunderts nach Hollywood auswanderte, gab es dort für Juden und Schwarze keinen Zutritt zu Klubs und Universitäten. Im Gegensatz zu heute war der Rassismus vor 1945 gesetzlich verankert, also institutionalisiert. Es brauchte die Niederlage des Nationalsozialismus, um das zu ändern.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs setzte dem alten Rassismus – mindestens auf Papier – ein abruptes Ende. Die rassistischen Schriften verschwanden aus den Büchergestellen. Getrieben von schlechtem Gewissen und der kommunistischen Konkurrenz, restaurierten die westlichen Siegermächte die Aufklärung. In der Uno-Menschenrechtserklärung von 1948 wurden alle biologischen und kulturellen Varianten des Menschseins einander gleichgestellt.
Die Ethnologinnen Ruth Benedict und später Margaret Mead gingen noch einen Schritt weiter. Andere Kulturen, Religionen, Lebensweisen mit westlichen Wertvorstellungen zu beurteilen, sei Arroganz. Uns Fremdes könne nur an dessen eigenen Werten gemessen werden. Der Kulturrelativismus – im Grunde ein radikaler Antirassismus – war geboren.
Verstärkt durch die linke 68er Bewegung und die romantischen Hippies prägte der Kulturrelativismus fortan das Verhalten der Mehrheit links der Mitte stärker, als uns bewusst ist. Manche der nach dem «Marsch durch die Institutionen» am Ziel angekommenen Professoren, Richter, Rechtsanwälte, Chefredaktoren und Theaterintendanten bauten sich darauf eine modern klingende Identität, die wesentlich darauf beruht, Fremdes, Andersartiges, Exotisches, Randständiges oft unhinterfragt gut zu finden. Damit setzte man sich ab von den (und über die) Bildungsfernen, welche die eigene Heimat gut finden und die eigene Kultur gar lieben.
Die Nutzung der kleinen Unterschiede nach 1989
Der Wegfall des Gegensatzes «Kommunismus versus Kapitalismus» als Begründung für Revolutionen und Staatsstreiche machte Kriege wieder zu dem, was sie in Stammeskulturen gewesen waren. Seit der Wende von 1989 gab es kaum einen Kriegsschauplatz, in dem Religion, Ethnizität, Identität nicht von einer oder von beiden Seiten bewirtschaftet wurden.
Bereits an meinem ersten Uno-Dienstort, Bagdad 1991, ging es um Ethnisch-Konfessionelles. Der vormals säkulare Saddam Hussein, welcher eilig «Gott ist gross» auf die Nationalflagge drucken liess, hatte mit dem Einfall in Kuwait Völkerrecht gebrochen, durfte aber im Amt bleiben – als sunnitisches Gegengewicht zur schiitischen Mehrheit des Iraks. Am zweiten Dienstort, Rwanda 1994, wurden die Identitäten Hutu und Tutsi, welche sich in Aussehen, Sprache und Religion kaum unterscheiden, im Ringen um den Besitz des Staates so lange ethnisch aufgeladen, bis es zum Massenmord kam. Kurz nach meinem Arbeitsbeginn im Uno-Sekretariat 2001 geschah, was rückblickend der erste Anschlag radikaler Islamisten im Westen war: die Zerstörung des New Yorker World Trade Center.
So viel Unheil während einer Beamtenkarriere erinnert an einen Satz, den der traditionalistische Germanist Emil Staiger einst gegen die «Exzesse» der Nachkriegsliteratur in Anschlag brachte: «In welchen Kreisen verkehrten Sie?» Seit der Wende verkehren wir offensichtlich in einer Welt, wo wieder mit den religiösen, kulturellen, biologischen Unterschieden Politik gemacht wird.
Diskriminierung am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche ist kleinlich, bösartig und gesetzwidrig. Als Rassismus sollte das nicht bezeichnet werden. Wer «Rassismus» hört, denkt am Ende an Auschwitz; und so ein Rassist will niemand sein.
Wo sich der neue «Rassismus» versteckt, ist nicht leicht auszumachen. Vorurteile gegen bestimmte Ausländer – durch Rassismus-Strafnorm und Political Correctness aus der Öffentlichkeit möglichst verbannt – werden zunehmend in rechtsextremen Splittergruppen und sozialen Netzwerken ausgelebt. Sie kommen vor allem dann an die Oberfläche, wenn Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität sich mit Ungebildetheit, Sozialhilfebetrug oder Kriminalität paart. Zum Beispiel in Lausanne, wo fast alle Drogenhändler Nigerianer sind.
Bleibt der neue «Rassismus» in den Programmen extremer Parteien: Rechts sperrt sich mit teilweise hetzerischen Parolen gegen unkontrollierte Zuwanderung. Zuwanderer nach beruflicher Qualifikation zu selektionieren, ist aber nicht per se rassistisch. Die Migrantenzahl auf ein sozial verträgliches Mass zu reduzieren, auch nicht. Europäer lieben ihre regionalen Kulturen, Musik, Tanz, Wein, Bier und auch Schweinefleisch. Die Freude daran will sich niemand verderben lassen. Die Nachkriegsgeneration Westeuropas ist stolz auf ihre Errungenschaften: Konfliktlösung ohne Gewalt, Demokratie, Sozialstaat, Gleichstellung der Geschlechter, Umweltbewusstsein. Die Angst, Rückständigkeit zu importieren, ist nicht unbegründet.
Nach 25 Jahren in Entwicklungsländern wieder in Europa, hatte ich den Eindruck, Mitte-Links – in Deutschland und in der Schweiz die politische Mehrheit – sei geistig bequem geworden. Auf den neuen «Rassismus» hin, ausgelöst durch eine chaotische Migration, hat man begonnen, mit den Gutwörtern und Schlechtwörtern der siebziger Jahre um sich zu werfen: Ja zu internationaler Solidarität, Ja zu ethnischer Diversität, Ja zu kultureller Pluralität, Ja zu Toleranz! Nein zur Abschottung Europas, Nein zu Rassismus, Nein zu Fremdenhass, Nein zu aufgewärmten Faschisten!
Grenzen des «Gutseins»
Geehrte Linke/Grüne/Liberale/Christdemokraten – es gibt geschicktere Arten, populistischen Parteien den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auch Gutwörter haben Grenzen. Diese weniger inflationär zu verwenden, hätte bereits eine entpolarisierende Wirkung. Internationale Solidarität heisst nicht, dass die vielen Probleme Afrikas oder der islamischen Welt dadurch gelöst werden können, dass man für die dort darbenden Menschen einfach die Tore öffnet.
Wer Pluralität grossartig findet, muss auch wissen, dass Vielfalt ohne ein Minimum gemeinsamer Werte ins Chaos führt. Wer für Toleranz plädiert, sollte auch einsehen, dass die Akzeptanz von fremden Lebensweisen in der Verfassung ihre Grenzen findet. Mit dem Gut-sein-Wollen ohne Grenzen kann man es zu weit treiben. Nicht ganz zufällig hat Hillary Clinton am Ende ihre für sicher gehaltene Wahl zur amerikanischen Präsidentin verloren.
Toni Stadler studierte Kolonialgeschichte und Biologie. Er arbeitete für IKRK, Uno, OECD und EDA/DEZA in zahlreichen Ländern Afrikas, des Nahen Ostens und in Ostasien. Der Text ist die Kurzfassung einer Festrede im Schloss Grosslaupheim am 18. Juli.
NZZ 28.12.2018
Zur Qualität des Helfens: Entwicklung heisst Modernisierung
von Toni Stadler
Entwicklung ist ein Begriff aus der Kinderpsychologie, mit dem ursprünglich das «Abwickeln kolonialer Fesseln» gemeint war. Im Hinblick auf die Ausarbeitung der neuen Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2021–2024 im kommenden Jahr wäre es präziser, von «Modernisierung» zu sprechen. Denn aus Ländern, wo «modern» kein Schimpfwort ist, Thailand, Korea, Vietnam, China, kommen keine Armutsmigranten; während die Jugend Afrikas und des Nahen Ostens wegen Arbeitslosigkeit und fehlender Lebensperspektive nach Europa flieht. Falls es nebst menschlicher Solidarität noch einen Grund braucht, etwas gegen die riesigen Wohlstandsunterschiede zwischen Afrika und Westeuropa zu tun, die Armutsmigranten haben ihn geliefert. Afrikanische Eliten und wir Entwicklungsfachleute müssen uns fragen: Was ist seit der Unabhängigkeit falsch gelaufen?
Priorität Wirtschaftsentwicklung
Es gibt natürlich Gründe, weshalb die direkte «Armutsbekämpfung an der Basis» seit dem Pearson-Bericht von 1969 ins Zentrum der internationalen Zusammenarbeit gerückt wurde. Das Helfen erhielt so eine verständliche Begründung, die Resultate konnten fotografiert werden, Spender und Steuerzahler waren zufrieden. Nun ist aber Armut keine Krankheit, die mit einem «War on Poverty» beseitigt werden kann, sondern die Folge eines Wirtschaftens und einer Staatsführung, die nicht in die Gegenwart passen. Der Fortschritt in Ostasien erinnert uns daran, dass sich kein Industrieland durch Basisarbeit in den Dörfern hochgearbeitet hat. Die Schweiz, seit 1848, wurde durch eine Unternehmerklasse modernisiert, ebenso die meisten asiatischen Tigerstaaten. Diese Klasse fehlt in den meisten afrikanischen und arabischen Ländern.
Eine Industrialisierungspolitik, wie sie ansatzweise in Rwanda oder Botswana existiert, geht die Ursachen der Armut an: Zu kleine Bauernhöfe produzieren kaum genug für den Eigenbedarf ihrer zu grossen Familien. Wegen schlechter Strassen und Eisenbahnen finden kaum 15 Prozent des Handels innerhalb der Region statt. Im ländlichen Afrika gibt es mehrheitlich noch immer keinen Stromanschluss. Die lokalen Banken sind oft unzuverlässig, so dass sie weder für Spareinlagen noch für Kredite zur Gründung von KMU genutzt werden. Rohstoffe, Mineralien, Baumwolle gehen unverarbeitet in den Export und kommen in Form von Mobiltelefonen, Schuhen, Kleidern «made in Bangladesh» zurück auf die afrikanischen Märkte. Die Teilnahme des «Kontinents der Jugend» an den globalen Produktionsketten für Konsumgüter beschränkt sich auf Einzelfälle, etwa Äthiopien oder Südafrika. Kein Smart Phone oder Fahrrad wird in Dakar, Algier oder Massawa endmontiert.
Afrikanische und arabische Staaten haben es verpasst, sich gewinnbringend in die Weltwirtschaft einzubringen. Die Schweizer Unterstützung der Wirtschaftsentwicklung – heute mit 250 Millionen Franken jährlich beim Seco angesiedelt – sollte deshalb in der neuen Botschaft erhöht und auf die ärmsten Länder ausgedehnt werden, von denen 25 in Afrika liegen. Mehr Investitionen durch Schweizer Konzerne und KMU in lokale afrikanische Partnerfirmen würden dazu beitragen, dass dort eine Unternehmerklasse entsteht, als Gegengewicht zu den oft parasitären Staatsapparaten. Die Bereitschaft dazu gibt es, sofern der Bund die Rahmenbedingungen bereitstellt: Abschaffung der Importzölle für Fertigprodukte aus Afrika und arabischen Ländern, Investitionsrisikogarantie, einen Schweizer Investmentfonds für Afrika.
Die Staatsapparate Afrikas modernisieren
Der Privatsektor allein bringt indes kein armes Land voran. Justiz, Aktienrecht, Arbeitsrecht, Landrecht, Bildung, Gesundheit, Sozialwesen, Umweltschutz und mindestens ein Teil der Infrastruktur sind öffentliche Aufgaben. Die Qualität afrikanischen Regierens und Verwaltens hat sich auch nach Hunderten von Weltbankstudien und UNDP-Evaluationen – anders als in Ostasien – seit der Wende kaum verbessert. Noch immer ziehen die meisten Länder südlich der Sahara nur etwa 15 Prozent des Nationaleinkommens als Steuern ein, verglichen mit 30 Prozent im Fernen Osten. Noch immer zahlen Bauern oft nur Abgaben an die traditionelle Chefferie, einen Parallelstaat, der üblicherweise den Grundbesitz kontrolliert. Und, ein guter Teil der Rohstoffexporteure und lokalen Händler entgeht dem regulären Fiskus.
Bei der «Guten Regierungsführung» ist ein Neuanlauf fällig. Aus Angst, mit korrupten Diktatoren zusammenzuarbeiten, haben sich viele Entwicklungsagenturen aus der Zentralverwaltung in die Provinzen und Gemeinden zurückgezogen. Modernisierungsarbeit muss aber nahe an der Regierungsspitze erfolgen, um breit wirksam zu sein. Weltbank, UNDP und die Afrikanische Entwicklungsbank, an welche die Schweiz erhebliche Beiträge zahlt, müssen daran erinnert werden, dass es primär ihre Aufgabe ist, die Staatsapparate afrikanischer Länder auf die modernen Standards von Niedriglohnländern zu bringen. Regierungsführung muss nicht neu erfunden werden; man kopiere Botswana oder Norwegen. Weil die internationale Zusammenarbeit generell zu viele Generalisten beschäftigt, fehlt es an praxiserfahrenen Fachleuten dafür. Bund und Kantonsverwaltungen sollten eingeladen werden, Steuerspezialisten, Spitalmanager, Agronomen, Schulleiter temporär als Berater zur Verfügung zu stellen, wie das im IKRK für Chirurgen geschieht.
Hilfe, Migration und Entwicklung
Mit der Rotkreuzbewegung hat die Schweiz eine 150-jährige Tradition staatlicher Hilfe für Opfer von Kriegen, Verfolgung oder Naturkatastrophen, wie sie der Klimawandel gehäuft bringen wird. Alle grossen politischen Parteien stehen hinter der humanitären Hilfe, sofern sie nahe am Ursprungsland gewährt wird, damit die Migrationsbewegungen ohne Visum nicht zunehmen. In der neuen Botschaft 2021-2024 sollte unser Land einen wachsenden Anteil des Budgets für den Unterhalt und die spätere Repatriierung von Vertriebenen, Flüchtlingen und Migranten in der Region des Ursprungslands einsetzen. Dies auf Kosten von bilateralen Dauerprogrammen in Ländern mit Prokopfeinkommen von über tausend Dollar.
Doch eine humanitäre Politik muss heute mehr anstreben, als kurzfristig Leiden zu lindern. Mit dem Anstieg der unkontrollierten Migration von Zentralamerika in die USA und vom Nahen Osten nach Europa um 2015 ist eine eigenartig polarisierte Diskussion entstanden. Naiver Humanitarismus einerseits und blanker nationaler Eigennutz andererseits blockieren jede ernsthafte Diskussion über den bestmöglichen Umgang mit der Armutsmigration. Wenn in Honduras die Gewaltkriminalität ausser Kontrolle ist, geht es doch nicht vorrangig um eine Grenzmauer an der Südgrenze der USA. Sondern darum, mit amerikanischer oder kanadischer Hilfe in Honduras die Polizei zu unterstützen und den Einwohnern dort eine menschenwürdige Zukunft als Alternative zur Auswanderung zu bieten. Wenn Millionen von Jugendlichen in den Sahelländern wegen fehlender Arbeitsplätze die Flucht aus Afrika planen, geht es doch nicht primär um neue Uno-Richtlinien für eine sichere Migration. Es geht vielmehr darum, dass der Uno-Generalsekretär die Staatengemeinschaft zu einem Investitionsprogramm für Afrika aufruft, einschliesslich der fossilfreien Elektrifizierung des Kontinents. Entwicklungsfachleute dürfen die Armutsmigration nicht den Grenzwächtern, Juristen und Sozialarbeitern allein überlassen. Mit einer neuen Botschaft, welche Humanitäre Hilfe, Armutsmigration und Entwicklung strategisch und operationell zusammenbringt, würde die Schweiz ein Gegensignal zur heutigen Uno-Führung setzen, und das Richtige tun.
Toni Stadler studierte Kolonialgeschichte und Biologie, arbeitete 25 Jahre für IKRK, Uno, OECD, vorwiegend in Ostasien und in Afrika, zuletzt als Leiter der EDA/Deza-Abteilung Analyse und Politik.
NZZ 5. März 2019
Klima, Migration, Wohlstandsgefälle:
Globale Verantwortung und nationaler Wahlkampf
von Toni Stadler
Es gibt kaum einen Begriff, über den von Laotse bis John Rawls tiefer nachgedacht und eingehender geschrieben worden ist, als «Verantwortung». Das nach Pflicht riechende Wort, verwandt mit Solidarität, hat eine über 4000-jährige Karriere hinter sich. Fühlte sich ein Mensch einst nur für seine Familie und vielleicht noch den Clan verantwortlich, dehnte sich die Reichweite der Verantwortung später zuerst auf alle Rechtgläubigen, dann auf die Bürger einer Nation und schliesslich – mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 – auf die ganze Welt aus.
Wie Verantwortung interpretiert wird, spaltet heute links und rechts, international und national. Der anstehende Wahlkampf wird zwischen Parteien ausgefochten werden, die (etwas überheblich) für alle Armen und Unterdrückten der Welt verantwortlich sein wollen, und Parteien, die (etwas egoistisch) für ihr eigenes Land verantwortlich sein wollen. Den Mittelweg zu finden, ist nicht leicht. Liberale Demokratien haben Mühe, globale Anliegen stimmengewinnend in den Wahlkampf einzubringen. Bei der Armutsmigration, in der Entwicklungszusammenarbeit oder beim Klimawandel sind die Verantwortlichkeiten unter Beamten im Ausland verstreut, die wir nur wenig kontrollieren, und die davon profitierenden Menschen sind in der Schweiz nicht wahlberechtigt.
Migration und Wohlstandsgefälle
Wer oder was ist für die im Mittelmeer ertrunkenen Migranten verantwortlich? 400 Jahre Ausbeutung durch das Osmanische Reich und die europäischen Kolonialmächte, welche die Industrialisierung Afrikas und des Nahen Ostens verhinderte? 50 Jahre Entwicklungszusammenarbeit, die es in Afrika und in den bevölkerungsreichen Ländern der arabischen Welt nicht geschafft hat, als Alternative zur Flucht Arbeitsplätze für Millionen junger Menschen bereitzustellen? Die unüberbrückbare Kluft zwischen Sunniten und Schiiten, Salafisten und moderaten Muslimen, welche die Kriege in Nigeria, Somalia, Jemen, Syrien, Afghanistan antreibt und Kriegsvertriebene produziert? Sind es die Regierungen der Herkunftsländer, die nicht willens sind, Schleppern vor Ort das Handwerk zu legen? Die Küstenwachen, welche seeuntüchtige Schlauchboote ablegen lassen? Oder liegt die Verantwortung bei uns Europäern, weil wir den falschen Eindruck erwecken, im Zweifelsfall würden Armutsmigranten hier Bleiberecht und Sozialhilfe erhalten?
Viele Engagierte wollen den Unterschied zwischen der jüdischen Flucht aus Nazideutschland und der heutigen Migration nicht sehen. Kein Mensch sollte ertrinken müssen. Doch sich auf gutmütige Art mit Verantwortung zu überladen, hat Europa entzweit und – in einer führungslosen Zeit – international handlungsunfähig gemacht. Das ist ein hoher Preis, von dem eine Minderheit von Migranten profitiert hat, während die missliche Lage der Mehrheit zu Hause in Afrika und im Nahen Osten nicht einmal ansatzweise behoben ist. Pro Armutsmigrant aus Ländern, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen weniger als 1000 Dollar beträgt, in der Schweiz über 10 000 Franken jährlich aufzuwenden, ist teure Armutsbekämpfung. Es braucht herkömmliche Aussengrenzen, die Wiedereinführung des Botschaftsasyls und eine Diskussion darüber, wo die Verantwortung für Armutsmigranten am wirksamsten wahrgenommen werden könnte.
Wer ist für das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern verantwortlich? Es gibt Gegebenheiten, für die niemand verantwortlich ist. Fast im ganzen Tropengürtel von Afrika, Brasilien, den Pazifikinseln sind bis vor 150 Jahren kaum organisierte staatliche Gebilde entstanden. Wie Yoweri Museveni in «Sowing the Mustard Seed» schrieb, war in ganzjährig fruchtbaren Klimazonen das vorausschauende Handeln nicht überlebensnotwendig und deshalb kein wichtiger kultureller Wert – ein Mangel an Management-Erfahrung, der die Anpassung an die Moderne schwierig zu machen scheint. Wer im internationalen Dienst arbeitet, trifft in Afrika und in arabischen Ländern Minister, welche die Verantwortung für den Modernisierungsrückstand ihres Landes routinemässig exportieren, also dem Imperialismus, dem Neokolonialismus oder der Globalisierung die Schuld geben. Meister darin war der rwandische Staatschef Paul Kagame, der in seinen Reden nicht nur den Völkermord von 1994, sondern alles, was vorher schiefgelaufen war, Deutschland, Belgien, Frankreich sowie der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit anlastete. Und damit reichlich mit Wiederaufbauhilfe entschädigt wurde.
60 Jahre nach der Unabhängigkeit sollte man es der eleganten afrikanischen Oberschicht nicht mehr erlauben, die Verantwortlichkeiten umzukehren. Zwar haben sich die meisten multinationalen Konzerne inzwischen freiwillig dazu verpflichtet, die 10 UN-Global-Compact-Prinzipien zur gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung auch dort einzuhalten, wo die lokale Regierung dies noch nicht verlangt. Aber weder die Konzerne noch die Schweizer Steuerzahler, noch die Deza sind verantwortlich für schlechte Wirtschaftsführung, unvollständige Staatsbudgets, intransparente Vergabe von Rohstofflizenzen, die Missachtung der Menschenrechte, fehlende Geburtenkontrolle oder rückständige Bräuche wie Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung. Betroffen machen uns die Probleme Afrikas trotzdem. «Wer reich ist, hat mehr Einfluss und damit mehr Verantwortung», diese Devise zieht sich seit Laotse durch die Schriften der Philosophie. Die Schweiz ist eine von der Geschichte gnädig behandelte Nation, wirtschaftlich ein G-20-Land. Es braucht eine Konzentration der Auslandhilfe auf Länder in der Nachbarschaft Europas und im anstehenden Wahlkampf eine Diskussion darüber, wie die Verantwortung für Armutsmigranten vor Ort am wirksamsten wahrgenommen werden kann.
Klimawandel
Beim Klimawandel kann die Verantwortung leichter zugeordnet werden. Kürzlich berichtete das IPCC, 2018 sei weltweit eine Rekordmenge von CO2 in der Luft entsorgt worden. Die westlichen Ölkonzerne für den Anstieg verantwortlich zu machen und sie wie Drogenhändler zu behandeln, ist aber unüberlegt und selbstgerecht. Fast der ganze technische Fortschritt der vergangenen 200 Jahre, die Kühlung im Sommer, die Heizung im Winter, Auto, Flugzeug, Raumfahrt, wurde dank fossiler Energie erzielt. Das Easy-Jet-Leben jedes europäischen Jungsozialisten beruht auf der Nutzung fossiler Energie.
Erst in den 1980er Jahren wurde wissenschaftlich erhärtet, dass unsere Zivilisation sich da ein ernstes Problem geschaffen hat. An der Uno-Klimakonferenz von Kyoto 1997 sahen sich die energieintensiv produzierenden und konsumierenden Bürger der Industrieländer noch in der Pflicht, das Problem allein zu lösen. An der weitgehend gescheiterten Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 wurde versucht, die Verantwortung auf die Brics-Länder auszudehnen. Und an der als Erfolg gefeierten Klimakonferenz von Paris 2015 wurden auch noch die ärmsten Länder dazu aufgerufen, durch fossilfreie Entwicklung den globalen Temperaturanstieg stoppen zu helfen. Das ist gut, lenkt aber von der ungleichen Nutzung oder Verschwendung fossiler Treibstoffe ab. In konkreten Zahlen: Die Golfstaaten emittieren pro Kopf und Jahr zwischen 20 und 40 Tonnen CO2, die USA 16,5, Deutschland 8,9, China 7,5, die Schweiz 4,3, Indien 1,7, während die meisten armen Länder weit darunter liegen. Geht man davon aus, dass alle Menschen gleiche Startchancen für Entwicklung und ein komfortables Leben haben sollten, müsste es armen Ländern gestattet sein, ihren Anteil CO2 bis auf zum Beispiel 2 Tonnen zu erhöhen, während wohlhabende Länder ihren Anteil auf 2 Tonnen reduzieren müssten. Zusätzliche Energie müsste aus emissionsfreien Quellen bezogen werden.Politisch umsetzbar sind derart radikale Vorschläge nicht, doch im Wahlkampf 2019 kann es nicht schaden, sich bewusst zu machen, wie globale Verantwortung in der Klimapolitik praktisch aussehen würde.
Toni Stadler ist Historiker und Publizist mit einer internationalen Laufbahn bei IKRK, Uno, OECD-Entwicklungskomitee/-Umweltkomitee und EDA/Deza.
NZZ 30. April 2019 zum 1. Mai und
Herausforderungen der Globalisierung:
Was es braucht, ist eine kompetente Opposition
von Toni Stadler
Der frühere Direktor des UN Global Compact, Georg Kell, hat die Stadt Genf im privaten Kreis einmal das «widersprüchlichste sozialistische Dorf Europas» genannt. Gerade am 1. Mai wird auch andernorts in ganz Europa manifest, was wie eine politische Lebenslüge anmutet: Während die erhobenen Fäuste alle Randgruppen und den ganzen Planeten vor der «Konzernlobby» zu schützen vorgeben, tun rot-grüne Stadtregierungen alles, um noch mehr Rohstoff- und Ölhändler in ihrem Territorium anzusiedeln. Die etablierten Linksparteien Europas finden es bis heute nicht der Mühe wert, sich einer echten Auseinandersetzung mit den Widersprüchen und Chancen der Globalisierung zu stellen. Währenddessen verlieren die Sozialdemokraten europaweit eine Wahl nach der anderen, in Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland. Klassenzentrierte Konfrontationspolitik funktioniert ausserhalb der grossen Städte nicht mehr. Man muss ein urbaner Träumer sein, um zu glauben, im Sonderfall Schweiz werde es nie so weit kommen. Für selbstkritische Liberale ist das kein Grund zum Feiern, denn der globalisierte Kapitalismus braucht eine kompetente Opposition. Wie aber müsste diese aussehen?
Nationale Politik
Die neue Opposition dürfte anders aussehen als die Sozialdemokratie, die «roten» Grünen plus die vielen Einzelthema-Gruppen des 1. Mai. Sie würde sich weniger mit Randständigen beschäftigen – für die der Sozialstaat ohnehin sorgen muss –, dafür stärker mit der arbeitenden Mehrheit: Die vergangenen siebzig Jahre sind für die Industrienationen ein wirtschaftlicher Glücksfall gewesen. Ab 1945 hatte der technisch überlegene Westen ein Monopol auf Exportgüter, von der Werkzeugmaschine bis zu Pharmazeutika. In den Swissair-Jets der 1960er Jahre nach Fernost oder Afrika sassen nur weisse Geschäftsleute. Die von Gewerkschaften erkämpften Löhne in Westeuropa und den USA waren bald zwanzigmal höher als im Rest der Welt. Steuern aus Einkommen und Konzerngewinnen finanzierten unsere Autobahnen, die Schulhäuser, den Sozialstaat. Seit 1970 ist gemässigt links zu sein das Erfolgsrezept für Karrieren beim Staat. Die erhobenen Fäuste gegen den globalisierten Kapitalismus lenken davon ab, dass die Sozialdemokratie längst häuslich geworden ist: «Gerechte Löhne, Gesundheit geht vor, menschliche Pflege, stabile Renten, starke Familie» heisst es auf der Website der SPD. So eine Zukunft hätte sich Karl Marx schlecht vorstellen können. Auch nicht, dass die Arbeiter der imperialistischen Nationen dereinst in Konkurrenz zu den Arbeitern in den ehemaligen Kolonien stehen würden. So ist es heute. Mit dem Aufschwung Chinas, Vietnams, Indiens, Brasiliens geschah dort, was sich jeder Entwicklungsexperte für arme Länder wünscht. Doch auch erfüllte Wünsche haben Konsequenzen. Wer Politik als die Kunst des rationalen Voraussehens begreift, wird einsehen, dass weder die Hochlohninsel Schweiz innerhalb Europas noch die Hochlohninsel OECD in einer globalisierten Marktwirtschaft von Dauer sein kann. Nicht nur Unternehmer, sondern auch die Arbeiter und Angestellten werden sich langfristig auf eine globale Beziehung von gleich zu gleich einstellen müssen. «Gleich» heisst ähnliche Bezahlung vergleichbarer Arbeit. Die Löhne in den glitzernden Bürotürmen von Schanghai werden also steigen, während die Einkommen und Renten in den traditionellen Industrieländern stagnieren oder sinken dürften.
Hier müsste eine neue Opposition zum globalisierten Kapitalismus innenpolitisch ansetzen. Ihr ginge es um die Erhaltung der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Nicht Lohnschutz, sondern tiefere Lebenshaltungskosten bei gleichbleibender Lebensqualität wären das Ziel. In den vergangenen siebzig Jahren haben westeuropäische Gesellschaften Fett angesetzt. Wir leben verschwenderisch und verwalten uns verschwenderisch. Nordische Gesundheits- und Rentensysteme zeigen, wie man mit weniger Krankenkassen, Apotheken, privaten Spezialärzten, Therapeuten ähnliche Resultate erzielt. Gewerbe und Landwirtschaft brauchen eine Konsolidierung. Mietzinse sind strikter an Hypothekarzinsen zu binden. An den Hochschulen wäre ein Numerus clausus für weiche «Unterhaltungswissenschaften» zugunsten von harten «Problemlösungswissenschaften» angebracht. Und ein guter Teil der Parallelforschung an europäischen Universitäten könnte folgenlos gestrichen werden. Ein Staat, der sich so auf das Wesentliche konzentriert, dazu Erbschaften und andere Einkommen ohne Arbeitsleistung stärker taxiert, könnte für die breite Bevölkerung die Steuern senken, als Kompensation für stagnierende oder sinkende Einkommen.
Internationale Politik
Die weltweite Tätigkeit der Schweizer Grosskonzerne (von der unser Wohlstand abhängt) wird am 1. Mai wie üblich als «das Problem» durch die Strassen getragen werden statt als wichtigster Teil der Lösung. 1945 wurde in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben, wie sich Regierungen weltweit verhalten müssen. Konzerne kommen darin nicht vor. Während des Kalten Krieges hat sich die Uno kaum für grenzüberschreitendes Geschäften interessiert. Als Kofi Annan im Juli 2000 die CEO der grössten Multinationalen ins Uno-Hauptquartier einlud, wurde er von linken Kritikern der Entweihung des Tempels der Nationen bezichtigt.
Der UN Global Compact mit seinen zehn Prinzipien zur verantwortungsvollen Unternehmensführung ist aber mehr als das Legacy-Projekt des prominenten Afrikaners. Der (zurzeit noch schwache) Gesellschaftsvertrag zwischen Uno und Multinationalen anerkennt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten in Grosskonzernen Macht zusammengeballt hat, welcher die Regierungen von kleinen und mittleren Ländern wenig entgegenzusetzen haben. Zu Macht gehört automatisch Verantwortung. Hier würde die neue Opposition zum globalisierten Kapitalismus aussenpolitisch ansetzen. Links-Grün hat kein Monopol auf Klimaschutz und Armutsreduktion. Ziel der Opposition wäre, den Übergang zur ökologischen und sozialen Verträglichkeit der Marktwirtschaft in allen Unternehmen zu beschleunigen. Das ethische Grundgerüst des UN Global Compact – konsequent angewendet – taugt als aussenpolitische Strategie der Opposition. Konzerne können selbst mit harten Gesetzen leben, sofern diese weltweit für alle gelten. Die Schweiz ist Standort überproportional vieler multinationaler Konzerne. Bei ihnen liegt mehr Einfluss zur Lösung oder Nichtlösung globaler Aufgaben als in der Schweizer Diplomatie. Die politische Arbeitsmethode der neuen Opposition wäre nicht Konfrontation per se, sondern kritische Kooperation: aufeinander hören, Fachkompetenz respektieren, bestmögliche Lösungen überparteilich vorantreiben. Dazu braucht es weniger Alleswisser, dafür ein Schattenkabinett von Fachleuten – Physiker, Chemiker, Ingenieure, Ökonomen, Juristen, alle mit praktischer Erfahrung. Insbesondere junge Fachleute wären eingeladen, ihr Wissen und ihre Ideen in die neue Opposition einzubringen oder direkt für einen Konzern an der Verbesserung der Welt arbeiten zu gehen. Etwa wenn es darum geht, wo mit den tiefsten Kosten am meisten CO2 eingespart werden kann; in welchen Ländern Schweizer Unternehmen und Banken entwicklungsfördernd produzieren, fossilarm investieren und Steuern zahlen sollten; oder wie man Entwicklungszusammenarbeit in eine Wirtschaftsbeziehung mit gleichen Chancen umbauen könnte. Weshalb sollten selbstbewusste Weltkonzerne auf eine solche Opposition hören? Weil vorausschauende Unternehmer wissen, dass es heute stark um die Legitimität der Marktwirtschaft und damit der offenen Gesellschaft geht.
Toni Stadler ist Historiker und Publizist mit einer internationalen Laufbahn bei IKRK, Uno, OECD-Entwicklungskomitee/-Umweltkomitee und EDA/Deza.
Tages Anzeiger 15. Juli 2019:
Frieden und Menschenrechte sind Chefsache
von Toni Stadler
Der Bundesrat erwähnt in seinem Strategie-Entwurf «internationale Zusammenarbeit» das Thema «Friedensförderung und menschliche Sicherheit» nur in einem kurzen Kapitel. Der Text erweckt den Eindruck, bei einem so selbstverständlichen Engagement erübrigten sich Fragen nach Wirksamkeit und Kosteneffizienz. Doch in so unruhigen Zeiten wie heute verdienen Frieden und Menschenrechte eine grundsätzliche Diskussion. Es geht um wichtige Aufgaben des Bundes. Und es geht immerhin um Entwicklungsgelder von einer Viertelmilliarde Franken.
Mit der Schaffung der Abteilung Menschliche Sicherheit im Aussendepartement hat sich die Schweiz eine mutige globale Rolle gegeben. Frieden kann man von oben, durch politischen und wirtschaftlichen Druck auf Staatschefs und Generäle fördern. Oder durch Basisarbeit, welche die Bevölkerung in die Lage versetzt, ihre Führung zur Vernunft zu bringen. Ich persönlich hatte ausschliesslich in bewaffneten Konflikten gearbeitet, wo Basisarbeit wenig bewirken konnte. Eliten begannen die Kriege. Und Eliten– immer mit verdeckter Hilfe von Grossmächten – beendeten sie. Die Schweizer Friedensförderung aber finanziert heute zu viele Nichtregierungsorgansationen und ist geografisch verzettelt. Arbeit an der Basis verlagert die Verantwortung für Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte von den Regierungen und der Wirtschaft auf die machtlose Bevölkerung. Dazu sind Berater für menschliche Sicherheit ohne ersichtliche Arbeitsteilung mit anderen Gebern auf fast 20 Hauptstädte von Bogotá über Harare bis Peking verteilt. In der Mehrheit dieser Einsatzorte fehlt ein Entwicklungsprogramm von Gewicht, mit dem Einfluss auf Konfliktparteien ausgeübt werden könnte. Die Schweiz ist keine Friedensgrossmacht. Sie kann nicht auf 20 bewaffnete Konflikte kompetent einwirken. Nüchtern betrachtet, haben wir höchstens Einfluss auf den Ausgang von Kriegen mit geringem geostrategischem Gewicht. Was hiesse, alle Schweizer Einflussmöglichkeiten (Diplomatie, Friedensförderung, Investitionen) auf Konfliktprävention und friedensförderliche Regierungsführung in maximal zehn Ländern zu konzentrieren.
Als ab 1990 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wiederentdeckt wurde und zahlreiche Länder – darunter die Schweiz – die Pakte über bürgerliche und politische Rechte ratifizierten, gab es Grund zu Optimismus. Nicht für lange. Die zunehmende Immunität Chinas und der Golfstaaten gegen Menschenrechtskritik, das Scheitern des Arabischen Frühlings, die steigende Zahl von Staatschefs auf Lebenszeit, ein machtloser UNO-Menschenrechtsrat und ein prinzipienloses Weisses Haus haben das Klima für Menschenrechtsarbeit massiv verschlechtert. Wie die Schweiz darauf reagiert, steht nicht im Botschaftstext. Unverändert stark wird auf die Finanzierung von Menschenrechts-NGOs gesetzt: private Hilfswerke, die lokal Rechte fordern, ohne etwas anzubieten, und die meist nur auf einer Seite des Konflikts arbeiten. Wie viele Partnerorganisationen, lokale, internationale, werden finanziert? Wo gab es Erfolge, Teilerfolge, Misserfolge? Das möchte man als Staatsbürger wissen. Menschenrechte sind Regierungspflichten. Das Hauptgewicht der Menschenrechtsarbeit gehört in die Professionalisierung der Justiz und in die hohe Politik. Dazu in das Training von Polizisten, Richtern, Gefängniswärtern. Dies konzentriert auf die zehn Schwerpunktländer südlich und östlich Europas, eng verknüpft mit den Deza- und Seco-Programmen für gute Regierungsführung. Parallel dazu sollte die Schweiz stärker auf die multilateralen Geldgeber problematischer Länder einwirken: die Weltbank, die UNO, die Regionalbanken. Und das politische Tabu, der Zielkonflikt zwischen Schweizer Wirtschaftsinteressen und harten Menschenrechtsforderungen, gehört im Parlament ausdiskutiert.
Toni Stadler: Der Historiker und Publizist arbeitete in der Entwicklungszusammenarbeit unter anderem für das IKRK, die UNO und das Schweizer Aussendepartement.
NZZ 8.8.2019
Mehr Frauen für die Mint-Fächer:
Studienwahl – die echte Emanzipation
von Toni Stadler
Mein Arbeitsplatz ist das Rolex Center der EPFL Lausanne, der Schwester-Universität der ETH Zürich. Die Mehrzahl der Studierenden, die sich hier auf ihre Prüfungen vorbereiten, sind Männer. Auffällig ist, dass die Mehrzahl der Frauen asiatische Gesichtszüge tragen. Sie kommen aus China, Taiwan, Südkorea, Vietnam, Singapur. Dort weiss man aus Erfahrung, dass die Vernachlässigung von Naturwissenschaften und Technik zu wirtschaftlicher Stagnation, Rückschritt und schliesslich zu Fremdherrschaft führt. Dort ist man sich zudem dessen bewusst, dass eine echte Gleichstellung der Geschlechter – die in Ostasien früher angestrebt worden ist als in Nordamerika und Europa – nur über die Beteiligung der Frauen an den besser bezahlten Naturwissenschaften, dem Ingenieurwesen, an Informatik und im Management zu erreichen ist.
Die offiziellen Zahlen der EPFL bestätigen diese Beobachtung. Zwar hat sich der Frauenanteil in den letzten zehn Jahren verdoppelt, doch noch immer sind von den rund 11 000 Studierenden nur knapp 25 Prozent weiblich, die Hälfte davon aus asiatischen Ländern. Anders sieht es an der nahe gelegenen Universität Lausanne (UNIL) aus: Die Mehrheit der 15 400 Studierenden der UNIL sind Frauen, wenige stammen aus Asien. Nur die Fakultäten Business and Economy (HEC) sowie exakte und Naturwissenschaften bleiben männlich dominiert.
Eine lohnrelevante Entscheidung
Die Hörsäle der mit Abstand grössten Fakultäten Sozial- und Politikwissenschaften sowie Geisteswissenschaften (Faculté des lettres) mit 5400 Studierenden – zwei Drittel davon weiblich – sind überfüllt. Die Attraktivität von Fächern wie Sozialanthropologie, Sprachwissenschaften, alte Geschichte ist für europäische Frauen offensichtlich unverändert höher als die von Biologie, Physik oder Umweltwissenschaften. Nicht nur in Lausanne sind «weiche» Studienabschlüsse populär. Die meisten Schulsysteme Kontinentaleuropas steuern mehr als die Hälfte ihrer bildungsbeflissenen Jugend in die «unexakten» Wissenschaften, während die Unternehmen männliche und weibliche Naturwissenschafter und Ingenieure von der University of Technology in Tianjin importieren, wo der Frauenanteil unter den Studierenden bei 50 Prozent liegt.
Im Westen und im Fernen Osten ist heute niemand mehr gegen die Gleichstellung der Geschlechter vor dem Gesetz, bei der Studienwahl und am Arbeitsplatz. Nur wird bei der beruflichen Aufwertung der Frauen oft ein wichtiger Punkt übersehen: Westliche Frauen zieht es stärker in die Geistes- und Sozialwissenschaften als westliche Männer. Zwar finden die meisten Studienabgängerinnen weicher Wissenschaften auf dem Arbeitsmarkt eine anständige Stelle, weil an einer Universität eben auch gelehrt wird, wie man sich gewandt ausdrückt und bei der Stellenbewerbung verkauft. Allerdings arbeiten sie dann oft lebenslang nicht auf dem Fachgebiet, das sie studiert haben und in dem sie kompetent wären, sondern kommen meist beim Staat unter: im Erziehungsdepartement, im Sozialamt, im Flüchtlingswesen, in der Entwicklungszusammenarbeit oder in der Uno.
Dieses Fehlen von Fachkompetenz in Recht, Ökonomie, Management, IT oder Engineering verschlechtert die weiblichen Aufstiegschancen und schlägt sich auf den Lohn nieder. «Der Vater macht Karriere, die Mutter den Herd», hiess es einst. Etwas überspitzt ausgedrückt: Der Herd des 21. Jahrhunderts ist ein Studium der Geisteswissenschaften, der Geschichte des Altertums, des Mittelalters, der Ethnologie, Slawistik, Nordistik und von vielem mehr, was auf «-istik» endet.
Weshalb zieht es Asiatinnen eher in Fachgebiete, die auf dem Stellenmarkt gefragt sind? Weil sie in Gesellschaften aufwachsen, in denen das Praktische mehr gilt als das Theoretische. Fremdwörter zu benutzen, um weniger Gebildete zu beeindrucken, ist unter Konfuzianern verpönt. Naturwissenschaften und Technik werden in der Schule von klein auf als notwendig und faszinierend dargestellt. So wie das mein Biologielehrer in den fünfziger Jahren tat, als er die damals entdeckte Doppelhelix als sensationelle Erweiterung des menschlichen Wissens in den Sekundarschulunterricht einbrachte.
Die relative Technikfeindlichkeit Westeuropas kam mit der 68er Bewegung in Mode. Sie behagte den Hippies, die jede Art von Karriere in den Naturwissenschaften oder in der Privatwirtschaft als «Rattenrennen» abtaten. Skepsis gegenüber der Technik passte auch zur antikapitalistischen Linken der siebziger Jahre, von der kaum einer als Aktivist je eine Fabrik von innen gesehen hatte. Eine gewisse Technikfeindlichkeit mag auch einem Teil der Professoren der Geisteswissenschaften gelegen gekommen sein, denn damit liess sich der rasante Ausbau ihrer Fakultäten während der vergangenen Jahrzehnte mit «Freiheit der Studienwahl» leicht begründen. Eine neue Generation von Journalisten, die mit Pink Floyds düster gestimmtem Endzeitepos «The Wall» aufgewachsen war, verlernte, Naturwissenschaften und Technik auf spannende Weise dem breiten Publikum näherzubringen. Eine neue Generation von Gymnasiallehrern in Lausanne besucht mit ihren Klassen kaum je einen Industriebetrieb wie Bobst oder Bombardier, sondern Flüchtlingsheime, Recycling-Stationen oder Bio-Hühnerhöfe.
Einst musste man den Religionen das Erklären der Welt wegnehmen. Heute sollte die Rolle der Geisteswissenschaften – speziell der Geschichte – bei der Gestaltung des Weltbilds unserer Jungen hinterfragt werden. Aus der Vergangenheit ist weniger zu lernen, als gemeinhin angenommen wird. Buddha wusste nichts von Zellbiologie, Caesar hatte keine Ahnung von Kernphysik, den Abbasiden waren die universellen Menschenrechte egal, und Goethe machte sich keine Sorgen wegen eines Klimawandels. Die vergangenheitsfixierte humanistische Bildung des 19. Jahrhunderts hat immer weniger Antworten auf die drängenden Probleme der Gegenwart und der Zukunft. Diese können nur von den Natur- und einem Teil der Sozialwissenschaften kommen.
Sich an Fakten orientieren
Nicht selten verbreiten philosophisch angehauchte Lehrer in den Schulen ein verwirrend relativistisches Weltbild. Wirklichkeit ist nicht einfach nur Ansichtssache, wie das vermeintlich pfiffige Pädagogen unseren Kindern beigebracht haben. Wahrheit ist nicht einfach nur eine Frage des Standpunkts. Naturwissenschaft ist nicht bloss ein weiterer Glaube. Der trendige Postmodernismus von Autoritätspersonen zieht Teenagern den Teppich der Wirklichkeit unter den Füssen weg und macht sie zum Ziel ideologischer Vereinfacher und politischer Gaukler. Selbständig und auf Fakten abgestützt klar denken zu lernen, ist das Ziel jeder modernen Bildung. Naturwissenschaftliche Kenntnisse, einfallsreich vermittelt, könnten entscheidend dazu beitragen, dass die Jugend geistig auf dem Boden bleibt und sich für die Zukunft der Menschheit engagiert.
Im europäischen Bildungswesen braucht es eine Revolution der Lehrpläne. Solange diese auf sich warten lässt, kann man nur rufen: Maturandinnen, schlagt die Machos auf ihren eigenen Spielwiesen! Studiert Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Recht, Ökonomie, Informatik oder Management – ob an der ETH, der EPFL oder an einer Universität! Echte Emanzipation geschieht nicht über Opfer-Rhetorik, Quotenregeln und AHV-Alter 64, sondern über die richtige Studienwahl. Weiter dazu gehören die Anerkennung biologisch unterschiedlicher Rollen von Frau und Mann sowie staatliche Beihilfen, welche den Karriere-Nachteil «Mutterschaft» angemessen auszugleichen versuchen.
Toni Stadler arbeitete 25 Jahre lang für IKRK, Uno und EDA in Asien, Afrika und Europa. Er lebt in Lausanne.
NZZ 18.2.2020:
Internationale Zusammenarbeit 2021–2024
Die drohende Irrelevanz der Entwickler
von Toni Stadler
Klimawandel, irreguläres Auswandern und das unzimperliche Vorgehen Chinas in Afrika lassen die klassische Auslandhilfe alt aussehen. Will internationale Zusammenarbeit relevant bleiben, muss sie sich als Teil der Lösung von Problemen anbieten, die uns heute beschäftigen. Der Entwurf der Botschaft 2021–2024, der im vergangenen Sommer in die Vernehmlassung ging, weist in die richtige Richtung. Doch im Text kommt zu kurz, welches die wichtigsten zwei Reformpunkte sind: Es geht darum, die fossilfreie Modernisierung voranzutreiben und die Wirtschaftsentwicklung ins Zentrum zu stellen.
Fossilfeie Entwicklung vorantreiben
«Sollte es gelingen, die einkommensschwache Hälfte der Menschheit von Armut zu befreien, würde dies zu einer Umweltkatastrophe führen.» Über dieses fast banal klingende Dilemma wurde selbst im Entwicklungskomitee der OECD nie wirklich diskutiert. Ohne plausible Antwort darauf wird Auslandhilfe zum Klimazerstörer – und Entwicklungsarbeit wird bedeutungslos. Nehmen wir Afrika: Zurzeit ist dort nur ein Kernkraftwerk in Betrieb (im südafrikanischen Koeberg). Zwei Drittel der Elektrizität für eine Bevölkerung von 1,3 Mrd. Menschen werden durch Verbrennen von Erdgas, Erdöl und Kohle erzeugt. Zwar entsorgen arme Länder weniger als eine Tonne Treibhausgas pro Kopf, aber Bevölkerung und Wirtschaft wachsen. Die Mittelschicht will klimatisierte Wohnungen, die Bauern – meist noch immer ohne Strom – möchten mindestens eine Steckdose im Haus. Wer der Armut entflieht, kauft sich als Erstes eine Waschmaschine, als Zweites ein Auto. Die Verkehrsstaus in Afrikas Hauptstädten sind legendär, der Bedarf an elektrischen Bussen, Trams, Bahnen ist schier unbegrenzt. Der Energieverbrauch nimmt zu. Ein Anstieg auf acht Tonnen CO2 pro Einwohner, wie er in China bereits Tatsache ist, darf weltweit nicht stattfinden. Also müsste der Entwicklungssprung direkt in Richtung fossilfreier Elektrizität erfolgen. Etwa mit Wasserstoff aus Sonnenenergie oder einer neuen Generation von Atomkraftwerken, finanziert durch die Entwicklungsbanken.
Wirtschaftsentwicklung ins Zentrum stellen
Im Botschaftsentwurf findet sich der Rahmenkredit «Wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit». Darin geht es um 300 Mio. Fr. pro Jahr (insgesamt 1,2 Mrd. Fr.) für die Seco-Wirtschaftsentwicklung in dreizehn Ländern mit mittleren Einkommen: Ägypten, Albanien, Ghana, Indonesien, Kirgistan, Kolumbien, Peru, Serbien, Südafrika, Tadschikistan, Tunesien, die Ukraine und Vietnam. Die Volkswirtschaft jedes Landes – ob reich oder arm – schafft produktive Arbeitsplätze, ermöglicht Steuereinnahmen, bestimmt den Wohlstand und den Grad der Armut. Nur eine funktionierende Privatwirtschaft kann jungen Afrikanern in ihrem Land Arbeitsplätze bereitstellen. Jede Entwicklungszusammenarbeit beginnt mit der Förderung von Rechtssicherheit für Menschen und Unternehmen. Dazu kommt die Professionalisierung des Kreditwesens, damit lokale und ausländische Banken in der Lage sind, die Spargelder der Bevölkerung in KMU zu investieren. Finanzministerien benötigen Expertenwissen für die Reform ihrer Steuersysteme, denn afrikanische Länder finanzieren einen zu geringen Anteil ihrer Entwicklung selbst. Vieles von dem tut die Schweizer Wirtschaftsentwicklung, allerdings in keinem der ärmsten Länder der Welt, von denen die meisten in Afrika liegen. Die Parallelexistenz von «Wirtschaftsentwicklung» und «Privatsektorförderung» zur traditionellen Entwicklungszusammenarbeit hat zudem zu einem Deza/NGO-System geführt, dem in den ärmsten Ländern die Wirtschaftskompetenz fehlt. Eine Rückführung dieser wichtigen Arbeit ins Zentrum der Landesprogramme der Deza (im Botschaftsentwurf vage als Möglichkeit angetönt) ist überfällig.
"Resistance to Change" überzeugen
Im Zuge der Vernehmlassung kam es zu einer Kontroverse um die Abwertung des Begriffs «Armutsreduktion». Es wird befürchtet, das Setzen der Schwerpunkte «Arbeitsplätze», «Klimawandel», «Migration» und «Investitionsförderung» sei eigennützig und verdränge das zentrale Anliegen der Armutsbekämpfung. Nun ist aber Armut nicht Ursache, sondern Folge von dysfunktionalen Staatsapparaten und schlechter Wirtschaftsführung. Das weiss zwar jeder Ökonom, dennoch wird weiterhin um die Erhaltung der «Armutsreduktion» gekämpft – weil die Idee, Notleidenden aus Tausenden von Kilometern Entfernung direkt zu helfen, menschlich ist und das Spenden fördert. Für einen Konsens über die internationale Zusammenarbeit braucht es eine wirklichkeitsnähere und vor allem positive Begründung, etwa: «Die Schweiz fördert fossilfreie Entwicklung in den ärmsten Ländern, damit sie am Fortschritt teilhaben und ihren Jungen eine Alternative zur Auswanderung nach Europa bieten können.» Am Prinzip der Auslandhilfe ändert das wenig. In Kriegs- und Katastrophengebieten bleibt direktes Helfen von Geber zu Empfänger richtig. Langfristige Entwicklungszusammenarbeit dagegen muss via private oder staatliche Institutionen gehen, welche die Wirkung der Unterstützung aus dem Ausland vervielfältigen, Investitionen ermöglichen und dadurch Arbeitsplätze schaffen.
Toni Stadler ist Historiker und Publizist. Er arbeitete 25 Jahre in der internationalen Zusammenarbeit, für das IKRK, die Uno, im Entwicklungs- und Umweltkomitee der OECD sowie im Schweizer Aussendepartement.
NZZ 14. April 2020
Die Pandemie schärft den Blick für Wesentliches
von Toni Stadler
Ich habe meine staatsnahe Berufslaufbahn als einen graduellen Verfall der Ernsthaftigkeit erlebt. Gegen Ende des Vietnamkriegs 1975 fühlten sich Diplomaten, Uno-Funktionäre und NGO-Personal persönlich berührt von den Schrecken der Kriege in Indochina, Iran, Angola oder Moçambique. Ob politisch Mitte-links oder Mitte-rechts, es ging um die Linderung von Leid. 1989 brachte die Wende. Die westliche Idee der Uno, Menschenrechte und freie Marktwirtschaft zum globalen Standard zu erheben, hatte gesiegt. So viel Übermut und Job-Sicherheit zeigten im Hauptquartier des Uno-Entwicklungsprogramms in New York Wirkung. Immer häufiger liessen sich Kollegen nach Bagdad, Luanda oder Maputo versetzen, weil es dort - nebst dem Lohn - eine Tagespauschale von 200 Dollar gab. War aufwendige Schreibarbeit zu verrichten, stellten die Civil Servants Konsulenten an. Die Zahl der Seminare zu innovativem Denken, Paradigmawechsel oder dem Beitrag der Kultur, der Religion, der Frauen am globalen Fortschritt nahm zu. Diese Anlässe, in Konferenzzentren im Hudson Valley, hatten mehr mit Selbstverbesserung im eloquenten Reden zu tun als mit Arbeit. War ein Thema mit einem dicken Bericht abgeschlossen, verschwendete kaum jemand Zeit bei dessen Umsetzung in Afrika oder Asien, sondern man wandte sich dem nächsten Thema zu. Probleme waren nicht zum Lösen da, sondern um mit ihnen beruflich aufzusteigen. Nie zu kurz kam die Planung der Ferien.
Im Entwicklungskomitee der OECD und danach in der Deza setzte sich der Verlust der praktischen Ernsthaftigkeit fort. Die neuen Kollegen und Kolleginnen waren stolz auf ihre Balance zwischen Freizeit und Arbeit. Die abgehobenen Diskussionen fanden nun in stilvoll renovierten Schlössern rund um Paris und Bern statt. Intellektuell Raffiniertes war gefragt. Wer nach der konkreten Wirkung unseres Tuns oder gar nach Kostenwirksamkeit fragte, war ein Spielverderber. Das unübersichtliche Geflecht multilateraler Organisationen einschliesslich der nationalen Entwicklungsagenturen, welche sie finanzieren, tut nach siebzig Jahren Frieden und Wohlstand weniger, als erwartbar wäre. Die Zeit des Gürtel-enger-Schnallens nach der Corona-Krise bietet eine Chance, dies zu korrigieren. Die gegenwärtige Pandemie stärkt den Glauben an die Staatsmacht. Die Bewältiger der Krise sind Gesundheitsdienste und Polizei. Wir sind nur Zuschauer und mögliche Opfer. Nach der Pandemie wird es prioritär um den wirtschaftlichen Aufschwung gehen. Probleme, die vor der Krise im Raum standen, dürfen darob nicht vergessen werden. Vor allem Heranwachsende, welche nie die Chance hatten, mit dem Studentenreisedienst die Armseligkeit der Sowjetunion persönlich zu erfahren, werden wieder für die Überwindung des Kapitalismus und gegen die krisenanfällige Globalisierung antreten. Klimawandel und Ungleichheit – monatelang aus den Medien verdrängt – werden diesen Sommer zurück sein. Die Pandemie schärft den Blick für Wesentliches und Unwesentliches. Ein Verlust der praktischen Ernsthaftigkeit ist heute auch an den Gymnasien und der Universität Lausanne spürbar. Gastreferate an Schulen, etwa zu Speziesismus oder zu Superfood, könnten bald alt aussehen.
In einer Rezession wird auch bei der Bildung gespart. Universitäten und Mittelschulen werden sich die Frage erlauben müssen, ob sie effizient unterrichten und ob die Prioritätensetzung bei den Studienrichtungen zukunftsverträglich ist. Schöngeistige Inhalte, am liebsten aus der tiefen Vergangenheit, dominieren die Auseinandersetzung mit Technologie, Industrie oder Wirtschaft bei weitem. Leistung scheint für manche Pädagogen etwas Zwiespältiges zu sein.
Dass die Inhalte vieler exotischer Forschungsgebiete von «Urgeschichte» bis «Ägyptologie» während des Lebens gut auch ohne Schweizer Lehrstühle privat gelernt werden könnten, ist an den Universitäten kein Thema. Dass eine Aufhebung duplizierender Forschung Millionen einsparen würde, auch nicht. Weil niemand seinen Kollegen auf die Zehen treten will, werden Fragen zur Priorisierung gar nicht erst gestellt: Welche problemlösenden Wissenschaften gehören ausgebaut, damit unser Land zukunftsfähig bleibt und sich konstruktiv in die Welt einbringen kann? Auf Kosten welcher Geistes- und Sozialwissenschaften sollte diese Umorientierung gehen? Bologna war keine Reform der Inhalte. Das Ende der Corona-Krise wird eine willkommene Gelegenheit bieten, das gesamte Bildungsangebot nach dessen Relevanz für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zu durchforsten. Staatlich finanzierte Bildung muss der Gesellschaft etwas zurückgeben; mit dem eigenen Geld kann lebenslang studiert werden, wozu man Lust hat.
Toni Stadler ist Historiker und Publizist mit einer internationalen Laufbahn bei IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza.
NZZ 9. Juli 2020:
Uninteressante Arbeit sollen andere verrichten
Was bringt uns der säkulare Bildersturm? Denkmäler zu beseitigen, ist Feigheit vor der Vergangenheit. Über den Kolonialismus sollte aus seiner Zeit heraus gerichtet werden.
Von Toni Stadler
Sklaverei, Kolonialismus und Globalisierung sind wieder Zielscheiben des Protests. Falls es eine Gemeinsamkeit zwischen diesen drei schweren Wörtern gibt, dann ist es der allzu menschliche Wunsch, körperlich harte oder repetitive Arbeit durch andere verrichten zu lassen. – Wie die Sklaverei aburteilen? Menschen und Ereignisse aus ihrer Zeit zu bewerten, ist ein methodischer Grundsatz der Geschichtswissenschaft. Das heisst nicht, die Taten der Männer mit Abbild aus Stein und Metall (Frauen sind krass untervertreten) zu entschuldigen. Die Griechen und Römer des Altertums liessen mühsame Arbeit durch Sklaven ausführen; niemand würde deshalb antike Vasen zerstören. Unterlegene Stämme zu versklaven, war den Gottesfürchtigen der Bibel selbstverständlich; niemand würde deshalb Kirchen vandalisieren. Während im islamischen Raum die Sklaverei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weiterbestand, wurde sie im europäischen Mittelalter weitgehend durch Leibeigenschaft abgelöst. Bauern verrichteten nun die unangenehme Arbeit, während die Gutsherren interessanteren Beschäftigungen nachgingen, dem Steuerneinziehen, dem Regieren, der Jagd. Ab der Renaissance, mit der Einführung von Plantagen in der Neuen Welt, stiegen europäische Geschäftsleute in den Handel mit afrikanischen Menschen ein. Erst die Aufklärung und der Ersatz von Sklaven durch Lohnarbeiter in der Industrialisierung brachten die Praxis zum Erliegen. Sklavenhaltung war während Tausenden von Jahren Zivilisationsgeschichte als «fact of life» akzeptiert. Heute braucht es keinen Mut mehr, dies unmenschlich zu finden. Doch Geschichte kann zwar unterschiedlich interpretiert werden, ändern lässt sie sich aber nicht. Denkmäler zu beseitigen oder Strassennamen zu zensurieren, ist Feigheit vor der Vergangenheit. Mutiger wäre, solche Orte mit Schulklassen zu besuchen, um die nächste Generation mit den unappetitlichen Seiten der Aufwärtsentwicklung des Homo sapiens zu konfrontieren.
Wie über Kolonialismus zu Gericht sitzen? Mit dem Umstürzen von Statuen von Christoph Kolumbus, Francis Drake oder Leopold II. ist vorab in Grossbritannien und Belgien eine überfällige Diskussion angestossen worden. Zu oft wurden Welteroberer in Büchern und Filmen romantisiert. Während des 19. Jahrhunderts ging der Sklavenhandel im kolonialen Handel auf, wie der Historiker Albert Wirz an Kamerun zeigte. Von da an transportierte man die Arbeitskräfte nicht mehr über den Atlantik, sondern liess sie bei ihnen zu Hause für den Export nach Europa schuften. Im Gegenzug lieferten die «Mutterländer» Lokomotiven, Lastwagen, aber auch moderne Medizin und in Teilen Afrikas die Schrift. Nicht wenige Schweizer Kaufleute und Investoren – mangels Meeranschluss eher Nischenspieler – machten mit. Im thurgauischen Bauerndorf meiner Kindheit gab es einen «Kolonialwarenladen» mit exotischen Produkten wie Rohzucker, Zimt, Vanille. Der altdeutsche Schriftzug wurde 1960 übermalt statt unter Denkmalschutz gestellt. Auch wenn es selbstgerechten Influencern schwerfällt: Über den Kolonialismus sollte aus seiner Zeit heraus gerichtet werden. Selbst für sozialkritische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Victor Hugo etwa, war er ein Randthema. Andere Länder zu erobern – über Jahrtausende üblich –, wurde erst mit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 völkerrechtlich verboten. Sich an allem Üblen der Weltgeschichte mitschuldig fühlen zu wollen, wie das gegenwärtig selbst unter Historikern wieder «in» wird, hilft niemandem, am wenigsten den Armen Afrikas. Heutige Menschen sind nicht für die Taten früherer Generationen verantwortlich. Dagegen dürften uns unsere Kinder daran messen, wie gut wir die Gegenwartsprobleme – Klimaerwärmung, globale Ungleichheit, nachhaltige Ressourcennutzung – gelöst haben.
Wie Globalisierung Arbeit umverteilt: Uninteressante Arbeit wie Felder bearbeiten oder immer gleiche Handgriffe am Fliessband verdient Respekt. Auch wenn kaum ein eingeborener Schweizer solche Jobs wollte. In den weltumspannenden Produktions- und Lieferketten wird repetitive Arbeit zunehmend in Schwellen- und Entwicklungsländern erledigt. In China, Vietnam oder Bangladesh hat Outsourcing einige hundert Millionen Arbeitskräfte und deren Familien aus der Armut befreit. Und in Schwellenländern zu einheimischen Hightech-Produkten geführt, welche auf dem Weltmarkt bestehen können, etwa die 5G-Technologie von Huawei oder der Passagierjet C919. Trotzdem beschreiben Schulbücher – speziell in der Romandie – Globalisierung als etwas Hochproblematisches. Globalisierung, eine Folge der erleichterten Mobilität von Massengütern, digitalen Daten und Finanzen, verteilt Arbeit und Einkommen global breitflächiger als das nationalistische Produktionssystem des 20. Jahrhunderts. Wenn weltweit operierende Firmen von den Regierungen der Länder mit hoher Arbeitslosigkeit genutzt, reguliert und transparent besteuert werden, ist das entwicklungsfördernd, armutsreduzierend und nicht per se umweltzerstörend.
Toni Stadler ist Historiker und machte eine Laufbahn im internationalen Dienst (IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza).
NZZ 12. September 2020:
Was heisst es heute, gebildet zu sein?
Nachdem der Autor gewisse Altertumsfächer als «Unterhaltungswissenschaften» bezeichnet hatte, wurde er professoral kritisiert: «Sie verzwecken die Bildung!» Bildung dient zweifellos Zwecken, die Frage ist nur: Welchen Zielen soll sie dienen? Gastkommentar von Toni Stadler
Gebildet ist heute, wer mit 25 Jahren ein Grundwissen zur Beurteilung von Gegenwartsproblemen besitzt. Die nüchtern technische Bekämpfung der Pandemie hat Halbgebildete, gewohnt, jedes Problem in einem Links-rechts-Schema unterzubringen, aus hoher Warte zu kommentieren oder die Schuld «dem System» zu geben, verstummen lassen. Gebildet sein heisst eben auch, handlungsfähig zu sein.
Im deutschsprachigen Raum ist Bildung von den Humboldt-Brüdern geprägt worden. Alexander, der Praktiker, ein kosmopolitischer Forschungsreisender, fliessend in Deutsch, Französisch und Englisch, konzentrierte sich auf Botanik, Zoologie, Ozeanografie, Kosmologie und Völkerkunde, um die Natur der Welt als Ganzes zu erklären. Wilhelm, dem Idealisten, einem aufgeklärten Preussen, fliessend in Deutsch, Altgriechisch und Lateinisch, ging es um die ganzheitliche Bildung von Fachwissen, Geisteswissen und Kunst, was seiner Ansicht nach am besten durch das Nachahmen vorbildlicher Menschen der Antike zu erreichen war. Der Idealist gewann vorerst; sein ganzheitliches Bildungsideal wurde in humanistischen Gymnasien zur Norm. Trotzdem verrannte sich Deutschland in zwei Weltkriege.
Die zweite Runde ging unbemerkt an den Praktiker Alexander. Wenig beeindruckt von Idealen, trieben Naturwissenschaft und Technik während der vergangenen Jahrhunderte den Fortschritt voran. Käme der Forschungsreisende heute zurück, würde er ein iPad mit Satellitennavigation beschaffen lassen und sich wundern, dass in Kontinentaleuropa fast die Hälfte der Bildungsfähigen ohne Kompetenz in Naturwissenschaft auf Gebieten abschliesst, in denen das Schöngeistige überschätzt wird. Als Empiriker würde er sich über die sozialen Netzwerke ärgern, wo Jugendliche nicht mehr daran interessiert sind, Wissen zur Beurteilung von Zeitfragen zu erwerben, sondern gleich mit Meinungen, Anschuldigungen oder Hasstiraden loslegen. – Zur kompetenten Diskussion und Bewältigung von Gegenwartsproblemen braucht es einfach mehr Grundwissen über Natur und Technik. Nur ein Beispiel, Klimawandel: Selbst viele Maturanden könnten nicht erklären, weshalb es am Jungfraujoch – 3000 Meter näher bei der Sonne – 20 Grad kälter ist als am Genfersee. Oder sie haben nie vom Wienschen Verschiebungsgesetz gehört, das allein erklären kann, weshalb solare Wärmestrahlen das Treibhaus Erde nicht gleich wieder durch dieselbe Luft ins Weltall verlassen. Fehlt es an derart trivialen Kenntnissen, sind junge Leute Influencern und politischen Gauklern ausgeliefert.
Die Vorbereitung auf einen Beruf
Gebildet ist heute, wer mit 25 nebst seiner Muttersprache in Englisch (vielleicht noch Chinesisch) kommuniziert und sich ein Ausbildungsprofil erarbeitet hat, welches gebraucht wird. Als es bei mir 1975 um die Studienwahl ging, empfahl der Berater zu studieren, wozu ich Lust hätte. Jedes Lizenziat öffne die Türen zu interessanten Stellen. «Seien Sie sich selbst, der Rest ergibt sich dann!» Im Rückblick war sein Rat aus zwei Gründen falsch: Selbstverwirklichung und Karriere als zwei widersprüchliche Lebensziele darzustellen, ist Hippie-Denken; jede professionelle Arbeit findet in einem kollegialen Umfeld statt, gibt dem Leben Rahmen, Sinn und Chancen, die Welt zu verbessern.
Am Arbeitsmarkt vorbeizustudieren, ist zudem schlecht genutzte Ausbildungszeit. Zwar führen in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland Berufslehren und Fachhochschulen auf einen Beruf hin, doch wenn es um die Eliteuniversitäten geht, wo Spitzenleistungen (und potenzielle Nobelpreise) gefragt sind, gilt das bewusste Studieren auf ein Berufsziel hin fast nur noch bei den Naturwissenschaften. Mich vom Historiker gegen die Konkurrenz von Ökonomen, Menschenrechtsjuristen und MBA-Absolventen aus Japan, Südkorea, Indien oder Grossbritannien zum UNDP-Manager umzubilden, kostete mühsame zehn Jahre. Schöngeredet wurde das mit «kontinuierlicher Weiterbildung». Mein Umweg war keine Ausnahme. Zahlreiche Bundesbeamte bei der Deza, dem Bafu oder dem SEM könnten mehr leisten, hätten sie an einer Hochschule erlernt, woran sie arbeiten.
Ein möglichst zeitgemässes Weltbild
Kontinentaleuropäischen Universitäten fehlt es – im Gegensatz zu asiatischen und den guten amerikanischen – an Prioritätensetzung. Unter Berufung auf die «Freiheit von Bildung und Forschung» aus Wilhelm von Humboldts Zeiten scheint jedes Fach, welches Hörsäle füllt, einen Lehrstuhl wert. Zu kurz kommen dabei die zweckhaften universellen Berufsfächer Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, welche weltweit gleich sind und die in Zeiten der Globalisierung alle Kulturen miteinander verbinden. Ist dies der Grund für den verpassten Anschluss EU-Europas an die IT-Zukunft?
Gebildet ist heute, wer sich mit 25 eine urteilsfähige Persönlichkeit erarbeitet hat, fähig, sein Weltbild regelmässig dem neuesten Wissensstand anzupassen. Bei Wilhelm von Humboldt schimmert Konfuzius durch, dessen Schriften er kannte: «Sinn und Ziel des Lebens ist es, der bestmögliche Mensch zu werden.» Das schliesst auch soziale Fertigkeiten mit ein, Humor, Witz, Ironie und alles, was einem dieser Tage in der Selbstverwirklichungsindustrie angeboten wird.
Käme der preussische Idealist heute zurück, liesse er sich interessiert über die gemachten Fortschritte der Menschheit briefen. Darüber, dass es nicht mehr nur eine Milliarde Menschen gibt wie zu seiner Zeit, sondern sieben Milliarden. Darüber, dass die Hälfte der Erdbevölkerung täglich damit beschäftigt ist, Geld für das Notwendigste zu beschaffen und deshalb keine Zeit für ganzheitliche Bildung hat. Von Humboldt bekäme zu hören, dass sein Bildungsideal zwar während zweihundert Jahren die richtige Idee propagierte, dass Gebildetsein mehr bedeutet als Berufswissen. Doch sei sein Konzept, mit Verlaub, auch missbraucht worden zur Schmückung von Gymnasien für Privilegierte oder zur Besitzstandswahrung für unnötige Lehrstühle.
Dass viele Bausteine für ein ganzheitliches Weltbild nun übers Internet allen leicht zugänglich sind und damit viele Hörsäle überflüssig werden, würde den sparsamen Protestanten freuen. Nach etwas Surfen im Internet würde ihm klar, dass es heute nicht mehr um ganzheitliche oder gar vollständige Bildung gehen kann, sondern um die bewusste Auswahl von Information aus einem ungeheuren Wissensangebot. Dass Beethovens Symphonien und Goethes «Faust» noch immer gespielt werden, dürfte von Humboldt mit Neid erfüllen. Die gegenwärtige Aufregung um Identitätspolitik würde ihm bestätigen, dass die Kluft zwischen dem Selbstbild eines Weltbürgers (Seid umschlungen, Millionen) und dem eines Berliners von damals (das «Preussenlied» singend) ein unveränderbarer Teil der Conditio humana ist.
Stören dürfte ihn, dass sich Naturwissenschafter und Geisteswissenschafter so stark spezialisiert und auseinandergelebt haben, dass sie miteinander umgehen wie einst er mit seinem Bruder Alexander: Man interessiert sich zwar nicht für das, was der andere tut, fühlt sich aber als Mitglied derselben Familie, steht einander also nicht unnötig auf die Füsse. Und vielleicht würde der Preusse hinzufügen: «Weshalb lasst ihr nicht einfach jeden Naturwissenschafter ein Nebenfach der Geisteswissenschaften studieren und umgekehrt?» Bildungsideale sind wie Schönheit, sie halten nicht ewig. Wilhelm von Humboldt war seiner Zeit voraus; heute darf man ihn in Ehren den Geschichtsbüchern überlassen. Wie dagegen das Bildungsideal des 21. Jahrhunderts aussehen müsste und welches die inhaltlichen und organisatorischen Konsequenzen für Schulen und Universitäten wären, verdient eine Debatte.
Toni Stadler arbeitete nach einem Grundstudium in Biologie und einem Lizenziat in Kolonialgeschichte 25 Jahre bei internationalen Organisationen (IKRK, Uno, OECD, EDA/Deza).
NZZ 21. Dezember 2020:
Warum Religionen global trennen statt verbinden
Die Globalisierung hat Religionen zu trennenden Apparaten gemacht, das sagt sogar der Dalai Lama. Fortschritt, Frieden und Offenheit brauchen die Trennung von Kirche und Staat. Gastkommentar von Toni Stadler
Während 25 Jahren humanitärer Hilfe und internationaler Zusammenarbeit blieb meine Begegnung mit Religion zwiespältig. Positiv: In der Demokratischen Republik Kongo traf man alle hundert Kilometer auf einen Pater aus Wallonien oder dem Elsass, der mit Spendengeldern aus Europa ein Spital führte, am Sonntag die Messe las, zu Weihnachten in der Kirche einen tropischen Christbaum schmückte und sich nicht zu schade war, morgens um drei Uhr bei einer schwierigen Geburt beizustehen. Oder evangelische und buddhistische Hilfswerke in den Flüchtlingslagern Südostasiens, die sich um Blinde, Behinderte und Tuberkulöse kümmerten, denen sonst niemand geholfen hätte. All das selbstlos, höchstens verbunden mit diskreter Missionierung. Als negativ empfand ich: Menschen, die nie eine Chance hatten, selbständiges Denken zu erlernen. Jemandem einzureden, ein dreifaltiger Gott oder der Kosmos steuere ihr Leben, führt zu einer Haltung des Erduldens. Besser als Erdulden wäre die Frage, weshalb in einem rohstoffreichen Land wie Kongo nach sechzig Jahren Unabhängigkeit religiöse Einzelkämpfer das Gesundheitssystem betreiben müssen statt der Staat. Ähnlich bei den buddhistisch erzogenen Kambodschanern, die viel Zeit und Geld zur Verbesserung des Karmas aufwendeten, aber weder den Roten Khmer trotzten noch dem gegenwärtigen starken Mann.
Glaube und Fortschritt
An der Zentrale des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in New York und in ihren Feldbüros war ab der Wende von 1989 ein Abnehmen des religiösen Glaubens zu beobachten. Zugunsten eines Engagements für globale Menschenrechte und ethisches Umweltverhalten, worüber in keinem heiligen Buch etwas steht. Zwar trug auch früher niemand in der Uno seine Weltanschauung an Hals oder Handgelenk zur Schau – weder Kreuz noch Ganesha noch Buddha –, doch nun gingen viele Arbeitskollegen auf Distanz zum «fortschrittshemmenden Glauben» in ihrem Heimatland: Indien sei nicht wegen, sondern trotz dem Hinduismus, der ältesten noch existierenden Religionsfamilie mit über einem Dutezdnd Göttern und Göttinnen, zu einem Schwellenland geworden, hiess es etwa. Gandhi habe einen säkularen Staat gewollt, in dem auch Muslime und Sikh Platz haben sollten. Dass sich der Hindu-Glaube unter Narendra Modi mit dessen Partei habe gleichschalten lassen, sei ein verheerender Fehler. Auch der Theravada-Buddhismus, eine Religion ohne Gott, einst die asketische Gegenbewegung zum Hinduismus, sei im heutigen Laos oder Kambodscha ein wenig entwicklungsfördernder Glaube. Der typische Buddhist beschäftige sich im Übermass mit sich selbst, verurteile nichts und niemanden, was eine schlechte Voraussetzung für Tatendrang sei. Heftige Selbstkritik am Islam kam von irakischen Kollegen in Bagdad nach dem letzten Golfkrieg. Michel Aflaq habe recht gehabt: Menschen, die wörtlich an einem unveränderbaren Buch des Frühmittelalters festhielten, könnten nie etwas Bahnbrechendes erfinden. Viele Iraker hatten das Verbot der Evolutionstheorie im Schulunterricht und den nicht endenden Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten so satt, dass sie ihren Ausweg in Richard Dawkins’ «The God Delusion» suchten. Scharfe Selbstkritik am «wirkungslosen» Christentum war unter rwandischen Uno-Funktionären häufig. Die katholische Kirche, während dreissig Jahren mit der Hutu-Partei verbandelt, habe weder aus rückständigen Rwandern eigenständig denkende Menschen gemacht, noch während des dreimonatigen Völkermords protestiert, aber von der Kanzel die «gottlosen» Tutsi verunglimpft, hiess es weiter. Nur von Kollegen aus Japan, Korea, China, die zumeist in neokonfuzianischen Familien aufgewachsen waren und seit dem Ende des Kolonialismus vom spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung in Ostasien profitiert hatten, war keine Selbstkritik an ihrer radikal diesseitigen Philosophie zu hören, dafür viel Übereinstimmung mit der Mehrheit des UNDP-Personals, den Säkularen.
Gemeinsames der Religionen
Theologen werden einwenden, ein Glaube diene nicht nur der Konfliktprävention oder der Entwicklung armer Länder, sondern biete Lebenssinn, Transzendenz, Spiritualität. Da die Unterschiede zwischen den Angeboten der mehr als dreitausend Religionen, Konfessionen, Sekten und Kulte von der Religionswissenschaft ausreichend erforscht worden sind, hier vier Gemeinsamkeiten: Erstens erklären fast alle Religionen Gläubigen das einstmals Unbegreifliche. Die Herkunft des Universums, der Erde, des Menschen, weshalb es Tag und Nacht, Blitz und Donner gibt und was mit uns nach dem Tod geschieht. Zweitens: Fast alle Religionen versuchen ihren Mitgliedern Sinn zu vermitteln. Indem sie ein gutes Leben auf Erden als Vorstufe auf eine sorgenfreie Weiterexistenz nach dem Tod oder einer höheren Wiedergeburt darstellen. Drittens sagen fast alle Religionen ihren Gläubigen – oft unter Androhung eines verschlechterten Karmas oder einer Hölle –, wie sie leben müssen. Dies mit sehr ähnlichen Geboten und Verboten,den Lebensregeln des Hinduismus, dem achtfachen Pfad des Buddhismus, den christlichen Zehn Geboten oder den fünf Säulen des Islam. Fast alle Religionen verlangen viertens von ihren Gläubigen, an Ritualen und Festen teilzunehmen. Zur Pflege des Gemeinschaftsgefühls, der Gruppenidentität, auch um dem Lebensbogen mit Zeremonien, Musik, Tänzen, Meditation Struktur und Qualität zu geben. In Gesprächen mit Priestern, Imamen und buddhistischen Mönchen hatte ich oft den Eindruck, dass Geistliche, etwa im Irak oder in Thailand, angesichts der Flutwelle weltlicher Ideen auf den Smartphones ihrer Gläubigen die eigene Irrelevanz befürchten und gerade deshalb nichts von Reformen wissen wollen. Denn viele ihrer Funktionen werden heute von anderen wahrgenommen: Weil sich die meisten religiösen Dogmen als falsch herausgestellt haben, erklärt heute die Wissenschaft die Welt. Gebildete Menschen, die nicht weiter an Dinge glauben, welche durch nichts belegt sind, erklären ihren Kindern den Lebenssinn diesseitig, etwa: Du lebst, um glücklich zu sein, deine Gesellschaft zu verbessern und dich für einen echten Fortschritt der Menschheit einzusetzen. Moderne Eltern, die es nicht ertragen, aus Furcht vor Strafe zum richtigen Handeln gezwungen zu werden, verzichten auf übernatürliche Richter und erziehen ihre Kinder mit dem kategorischen Imperativ und den Menschenrechten. Und Menschen, die eine Spiritualität ohne Gott leben, geniessen traditionelle Feste und vieles, was Weltreligionen zur Kultur beigetragen haben, auch ohne Glaubensbekenntnis.
Religion und Spaltungen
Trotz zahlreichen Gemeinsamkeiten in der Lehre spalten rivalisierende Kirchenverwaltungen in vielen Entwicklungsländern die Gesellschaft. Mit weltweit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, Aufstiegsmöglichkeiten und Pensionskassen ist ihr Selbsterhaltungstrieb ähnlich zäh auf Ausbreitung und Geldbeschaffung gerichtet wie bei Uno-Agenturen. Um Jahrtausende zu überleben, haben sich Religionen in der Vergangenheit den weltlichen Eliten unterworfen oder sie beherrscht. Vom Buddhismus Kaiser Ashokas über den Kriegsbuddhismus Japans, den staatlichen Gebrauch des Konfuzianismus in China und Korea, das Christentum unter den späten römischen Kaisern und danach den europäischen Königshäusern bis zu den Rechtsschulen des Islam, die sich fast immer als integraler Teil der jeweiligen Staatsmacht betrachteten. Zurzeit nimmt die Nutzung des Religiösen zur Gewinnung demokratischer Mehrheiten zu, so in Russland, Indien, der Türkei oder in den USA. Auf ziemlich allen Kriegsschauplätzen des 21. Jahrhunderts – Jemen, Syrien, Irak, Afghanistan, Burma – ist Religion Zündstoff. Dazu erschwert ein unreflektierter Glaube vielen Migranten im Ankunftsland die Integration. Die Globalisierung habe Religionen zu trennenden Apparaten gemacht, findet neuerdings sogar der Dalai Lama. Fortschritt, verstanden als die friedliche Entwicklung in Richtung einer offenen Gesellschaft, braucht die Trennung von Kirche und Staat und weniger organisierte Religiosität. Theologische Bedenken, dass ohne Gottesfurcht die Mitmenschlichkeit zusammenbrechen werde, sind unbegründet. In nordischen Ländern, wo die Kriminalität tief ist, am besten für Invalide, Kranke, Arme gesorgt und am meisten für Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und Umweltschutz getan wird, besucht die Mehrheit der Bevölkerung keine Gottesdienste mehr – entzündet aber dennoch zu Weihnachten, diesem vorchristlichen Brauch, im Kreis der Familie an Tannenbäumchen weisse Kerzen.
Toni Stadler studierte Kolonialgeschichte und Biologie. Die 25-jährige Berufslaufbahn bei IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza führte ihn nach Niger, Thailand, in den Irak, nach Kambodscha, Angola, Rwanda und in die DRK.
NZZ 7. Mai 2021:
Rassismus: Die USA sind nicht mit Europa vergleichbar
Die amerikanische Rassismusdiskussion verrennt sich im Historischen, Ideologischen und Unpraktischen. Das sollten wir nicht nachahmen. Gastkommentar von Toni Stadler
Alle sind gegen Rassismus. Darüber, wie man ihn loswird, streitet sich die universitäre Elite Frankreichs und der USA. In Frankreich forscht man fast nicht mehr an den Unterschieden von Menschen verschiedener Herkunft oder Hautfarbe und führt auch keine Statistiken darüber. Wer im Hexagon lebt, ist Franzose, mit gleichen Pflichten und Rechten. Voilà. – Aus Pariser Sicht fördern Racial Studies und Identitätspolitik die Aufsplitterung der Gesellschaft – derweil amerikanische Denker ihren rückständigen («so yesterday») Kollegen vorwerfen, die unselige Kolonialzeit und den eigenen Rassismus unter ihren Schreibtisch zu wischen.
Apartheid dort, Schmelztiegel hier
Der amerikanische Rassismus diente hauptsächlich dem Kleinhalten der Urbewohner und der Sklaven und als Einwanderungsbegrenzer für Asiaten. Die meisten europäischen Siedler betrachteten die indigenen Völker Nordamerikas nicht als vollwertige Menschen, weil man einen Grund brauchte, sie in Reservate abzuschieben. Die 1865 befreiten schwarzen Sklaven, fast alles Analphabeten, welche aus Plantagen im Süden in städtische Armensiedlungen umzogen, wurden mit den Jim-Crow-Gesetzen daran erinnert, dass auch sie keine vollwertigen Amerikaner seien. Fünf Generationen lang lebten Schwarze in einer Art Apartheid, mit getrennten Schulen, dem Verbot der Rassenmischung, einem voreingenommenen Justizsystem und bis 1964 ohne Wahlrecht. Die geballte Frustration der heutigen Afroamerikaner hat viel mit diesen hundert Jahren Jim-Crow-Segregation zu tun. Die Chinese Exclusion Act –im frühen 20. Jahrhundert auf Japaner ausgedehnt – verwehrte asiatischen Einwanderern die bürgerlichen Rechte bis 1952.
Nach der Wahl von John F. Kennedy machte die Demokratische Partei, welche in den Südstaaten lange für die Beibehaltung der Sklaverei und danach die Rassentrennung stand, eine Kehrtwende. Präsident Johnsons Civil Rights Acts von 1964 und 1968 stellten alle «Rassen» – zumindest auf Papier – der weissen Mehrheit gleich. Weil nun alle Minderheiten wählen konnten, wurden die 18 Prozent «Hispanic», die 12 Prozent «Black», die 6 Prozent «Asian» für Wahlkämpfe interessant. Seither studieren Soziologen, Politologen, Psychologen deren Wahlverhalten – und setzen soziale Probleme, Armut, Schulversagen, Kriminalität als Argumente gegen die knausrigen Republikaner ein. Ungewollt wird damit fortgesetzt, was man beseitigen wollte: das Denken in «Rassen». Was auch manche Karriere beflügelt hat: Barack Obama, Sohn einer europastämmigen Mutter und eines Studenten aus Kenya, wurde zum ersten «schwarzen» Präsidenten. Nach derselben Logik wären meine Kinder (mit japanisch-amerikanischer Mutter) «Asiaten» oder «Schweizer of Color». Die Förderung Einzelner durch «affirmative action» macht vergessen, was die Wurzel des heutigen amerikanischen «Rassismus» ist: Trotz Vorzeigemodellen – Sportler, Rapper, TV-Stars und Polizeikommandanten – gibt es dort seit fünfzig Jahren eine verwahrloste Unterschicht, oft Waffenbesitzer, manchmal im Drogenhandel tätig, die mehrheitlich schwarz oder «of color» ist. Sie wird in Schach gehalten durch Polizeikorps, für deren Inkompetenz und Brutalität offenbar nie ein Gouverneur geradestehen muss. Ich erinnere mich an Uno-Kollegen aus afrikanischen Ländern, die in Manhattan keinen Aufwand scheuten, sich selbst und ihre Kinder nur ja nicht als amerikanische Schwarze erscheinen zu lassen.
Der europäische Rassismus diente hauptsächlich dazu, die kolonialen Eroberungen in Übersee als gute Taten darzustellen. Die Frechheit der Grossmächte des 19. Jahrhunderts, China, Niederländisch-Indien, Indien und das gesamte Afrika südlich der Sahara zu erobern, brauchte eine Begründung. Deshalb verbreiteten sich im Zeitalter des Imperialismus Theorien, welche Hautfarben mit bestimmten Eigenschaften, etwa Bildungsfähigkeit, Charakter, Moralität, gleichsetzten. Der institutionelle Rassismus Europas war (mit Ausnahme des Nationalsozialismus) nicht gegen ethnische Minderheiten zu Hause gerichtet, sondern primär gegen Andersfarbige weit weg. Moralisch besser macht ihn das nicht, aber anders als in den USA. Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 verschwand die rassistische Literatur aus ordentlichen Haushalten. Junge Leute sind sich kaum bewusst, dass die vergangenen siebzig Jahre in Westeuropa (Ausnahme: Nordirland) eine Zeit ohne ethnisch motivierte Gewalt waren. Die Kriege mit ethnischer oder religiöser Schlagseite fanden anderswo statt, in Indien, Südostasien, dem Nahen Osten und Afrika. Die linke Dauerbewirtschaftung der weissen Kolonialschuld (eigentlich ist damit der Kapitalismus gemeint) tut dem Abbau des Süd-Nord-Rassismus einen schlechten Dienst. Echt rassistische Töne setzten in Europa erst 2015 ein, mit dem Flüchtlingsstrom aus Syrien, der Finanzierung des Salafismus durch die Islamische Weltliga und die Terroranschläge. Das ist bedauerlich, aber mit rechtsstaatlichen Mitteln begrenzbar. Selber seit tausend Jahren multiethnisch, hat Westeuropa – sofern die Einwanderung gesteuert erfolgt und Ankommende die Verfassungen respektieren – durchaus das Potenzial für einen modernen Schmelztiegel.
Rassismusreduktion
In den USA gibt es kaum ein Thema, über das so intensiv geforscht, publiziert und gestritten wird wie «race», einen Begriff aus der Nutztierzucht, der fast nur noch im amerikanischen Englisch auf Menschen angewandt wird. Amerikanische Schulbücher ignorieren, dass es biologisch betrachtet keine «Rassen» gibt. Alle Rassentheorien von Aristoteles bis Houston Stewart Chamberlain kann man vergessen. Nichts belegt, dass Hautfarbe und Gesichtsformen irgendetwas mit Intelligenz, Machtstreben oder Sprechtalent zu tun haben. Ob wir aussehen wie Einstein, Mao oder Kofi Annan, ist ererbt; die Persönlichkeit wird vom Umfeld geformt.
Racial Studies werden nicht von Biologen, sondern von Sozial- und Geisteswissenschaftern angeboten. Mit der kritischen Rassentheorie der 1970er Jahre, die seit George Floyd wieder in ist, suchen sie nach systemischer Unterdrückung, die erklären soll, weshalb der rechtlichen Gleichstellung der «Rassen» von 1968 nicht der materielle Aufstieg folgte. Es erinnert an die Suche nach «struktureller Armut» in der entwicklungspolitischen Diskussion. Hunderte von Studien dazu bewirkten nichts, weil sie dem leistungswilligen Einzelnen keine Handlungsmöglichkeiten anboten. Alles, was Racial Studies bisher erreicht haben, ist eine Hypersensibilität rund um das Schmähwort «Rassist», die es amerikanischen Lehrern unmöglich macht, auch nur leiseste Kritik an Minoritäten zu üben. Nicht nachahmen! Die Gewohnheit europäischer «Progressiver», einfach zu übernehmen, was in der «New York Times» steht, ist hier ein Fehler. Plakate mit «Black Lives Matter» durch Schweizer Städte zu tragen, beleidigt die professionell arbeitenden Polizisten und Richter. Persönlicher Rassismus muss durch jeden Einzelnen in der Kindererziehung, im Schulunterricht, bei der Personalrekrutierung praktisch bekämpft werden. Ganz auszurotten ist er nicht. Die dem Menschen eigene Abwehr des Fremden, die es in allen Kulturen gibt, kann mit beharrlicher Aufmerksamkeit nur begrenzt werden. Dennoch, es gibt in der oft humorlosen und immer hochdramatischen Diskussion um Rassismus auch Lichtblicke: Gemischte Paare sind in Europa normal geworden. Verheiratete unterschiedlicher Herkunft bemerken schon nach kurzer Zeit die andersfarbige Haut ihres Gegenübers nicht mehr als Erstes. Eltern mit Adoptivkindern aus Asien oder Afrika nehmen diese schnell als ihre eigenen wahr. Und nicht wenige Beispiele zeigen, dass Andersfarbige auch ohne Diversity-Bonus bereits in der zweiten Generation Universität und Karriere meistern können.
Toni Stadler studierte Kolonialgeschichte und Biologie. Er arbeitete 25 Jahre in Asien, dem Nahen Osten, Afrika und den USA bei internationalen Organisationen wie IKRK, Uno, OECD, EDA (Deza).
NZZ 5. März 2021:
Der Pyrrhussieg des Meinens über das Wissen
Die Entprofessionalisierung der Information in sozialen Netzwerken hat das Meinen trendig gemacht. Eine Meinung kann mit weniger Aufwand erworben werden als kompetentes Wissen. Gastkommentar von Toni Stadler
Für Junge gegen zwanzig ist es wichtig, sich speziell zu fühlen. Dass Gleichaltrige nach ähnlichen Lehrplänen studieren, dieselben Sprachen lernen, in global standardisierten Fächern, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, getestet werden, weckt die Lust, über die Herde hinauszuragen. Sich ein Dutzend Meinungen zuzulegen und daraus eine eindrückliche Person zu bauen, ist naheliegend. Also zieht man sich Meinungen an wie Kleider. Der Drang zum Einmaligsein begann nicht zufällig in den USA, wo Vorgärten, Türklinken und Redensarten normierter sind als anderswo. Lange vor Mark Zuckerberg gab es in Highschool-Klassen sogenannte «face books», worin Schüler mit Tinte oder Kugelschreiber ihr Persönlichkeitsprofil kundtaten. Im amerikanischen Teil meiner Familie heisst das heute, als Beispiel, so: «Ich bin 16, finde Boxen und Snowboarden cool, mag Boys und Girls, Fleisch essen ist gegen meine Integrität, bin für Diversität, den Klimaschutz, gegen die Ausbeutung des Prekariats und halte Joe Biden für langweilig.»
Bruder der Denkfaulheit
Ob das auch wahr ist, spielt keine Rolle. Zur Ehrenrettung unserer Teenager: Die Meinung mit fehlender Begründung – eine Schwester der Denkfaulheit – gab es schon vor ihnen. Junge haben seit eh und je kluge und dumme Meinungen von Eltern, Freunden, Lehrern oder Geistlichen übernommen. Und selbst viele Erwachsene schmücken ihre Charakter-Brands gerne mit hippen Meinungen. Neu ist die schiere Menge, Beliebigkeit und Widersprüchlichkeit des Gesamtangebots. In sozialen Netzwerken werden fast nur Meinungen geteilt. Die Newsfeeds des Smartphones liefern einen nie abbrechenden Strom von Meinungen, getarnt als Nachrichten. Weil Talkshows mit kontroversen Meinungen hohe Einschaltquoten bringen, gibt es immer mehr davon. CNN präsentiert fast 24 Stunden täglich Meinungen. Die Werbung dazwischen überzeugt nicht durch sachliche Information, sondern überredet mit Gefühlen, Gags und den angeblichen Meinungen attraktiver Models. Sich angesichts dieser geistigen Kakofonie seine unabhängige Meinung zu bilden, ist heute schwieriger noch zu Zeiten, als es lediglich zwei Bündel von ihnen gab: sozialistische und bürgerliche. Die übertriebene Beschäftigung mit Meinungen geht auf Kosten des Erwerbs von universitärem Wissen. In Facebook, Instagram oder Twitter sind die Wissenschaften höchstens Dekoration.
Die Folgen? Eine durch die Meinungsflut verunsicherte Minderheit flieht in die sozialen Schutzräume von Ideologien, Verschwörungstheorien, Veganismus, Impfgegnertum, wo sämtliche Lebensfragen einer Leitmeinung unterstellt sind. Andere arrangieren sich: Die Mehrheit meiner Bekannten am Genfersee, die des Bombardements durch Meinungen müde sind, reduzieren die Meinungsvielfalt auf Grün, werden ihre SUV bald durch Tesla ersetzen, halten den Kapitalismus für revisionsbedürftig, interessieren sich aber nicht mehr für Politik. Überzeugt, ihren Teil zur Rettung der Welt getan zu haben, wollen sie nur noch gut sein. – Ist das gut genug? Dem antiken Griechen Xenophanes lag daran, scharf zwischen Meinen und Wissen zu unterscheiden, weil er damit die denkhemmende Allmacht religiöser Mythen um den Gott Zeus zu entkräften hoffte. Kant schrieb in «Kritik der reinen Vernunft»: «Meinen ist ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten.» Da Philosophen – nur schon wegen ihrer komplizierten Sprache – vom breiten Volk nie verstanden wurden, muss ihre Meinungs-Schelte nach der Aufklärung in Vergessenheit geraten sein. Mit Meinungen baut man keine Dampfmaschinen. Dennoch haben Meinungen und Einschätzungen von Spezialisten, die auf ihrem Gebiet hervorragendes Wissen oder grosse Erfahrung besitzen, eine wichtige Funktion. Ihre fundierte Meinung dient als Vorstufe zum Handeln. Weil die amerikanischen Gründerväter der Meinung waren, eine Nation ohne König und Staatskirche sei möglich, entstanden die USA. Weil zwei Ingenieure der Meinung waren, Flugzeugmotoren nach dem Rückstossprinzip seien machbar, erfanden sie das Strahltriebwerk. Gerade auch in städtischen Zirkeln Europas scheint sich das Meinen vom Handeln getrennt zu haben. An Podiumsdiskussionen oder Partys ist es zur Gewohnheit geworden, mit gesenkter Stimme Meinungen über die Probleme der ganzen Welt zu verbreiten, ohne Zeit darauf zu verwenden, wie man sich in der Politik oder am Arbeitsplatz für deren Lösung einsetzen könnte. Europas Weltherrschaft ist zwar Geschichte, doch wer sich Sorgen um die früheren Kolonien macht, weist – obwohl es dort niemandem etwas bringt – wenigstens auf seine fortschrittliche Gesinnung hin. In Grossunternehmen oder in der OECD, wo die Anforderungen höher sind, müssen Meinungen mit Aussicht auf Realisierung begründet sein. Doch auch begründete Meinungen sollten nicht unkritisch übernommen werden. Wunschdenken, Emotionen, Herdenverhalten oder die Sorge um seinen illustren Posten stellen der richtigen Meinung oft genug ein Bein. Das von Präsident Clinton stammende Konzept des «constructive engagement» mit China von 1998 – unterstützt durch prominente Ökonomen – gefiel sowohl den amerikanischen Konzernen als auch den linken Demokraten, brachte aber das Reich der Mitte nicht näher an eine liberale Demokratie und die Einhaltung von Menschenrechten. Bundeskanzlerin Merkels vielzitierte Meinung «Wir schaffen das» von 2015 – damals unterstützt von den massgeblichen Parteien – erstickte die Initiativen für eine rasche Anpassung der Flüchtlingskonvention an die neue Wirklichkeit, führte dafür in Europa zu einem Rechtsrutsch und in Grossbritannien zur Mehrheit für den Brexit.
Die Führungsrolle des Wissens
Aus etwas Distanz kann man die vier Jahre von Donald Trumps Präsidentschaft als einen Rückfall vom Wissen ins Meinen mit fehlender Begründung sehen. Nicht alles an seinem Programm war falsch. Einwanderung muss kontrolliert erfolgen, die Verlierer des Outsourcings brauchen alternative Arbeitsplätze, die Selbstgefälligkeit vieler Urbaner mit sicherem Einkommen und politisch korrekten Meinungen, welche soziale Probleme bewirtschaften statt lösen, ist ein Ärgernis. Verfehlt waren sein Rückgriff auf den Egoismus der Nation, die zynische Nutzung des diffusen Meinens seiner Unterstützer und das pauschale Heruntermachen der geistigen Elite.
Populisten wollen die stufengerechte Urteilskompetenz nicht wahrhaben. Moderne demokratische Systeme – von Westminster bis zum Schweizer Bundesstaat – waren nie darauf ausgelegt, den Willen einer unzureichend informierten Volksmehrheit wörtlich umzusetzen. Weil sonst die Exekutive ihre Führungsrolle nicht hätte wahrnehmen können. Zum guten Regieren braucht es Persönlichkeiten, die nicht mit Bauchgefühl meinen, sondern mehr wissen als ihre Wähler. Die staatliche Schweiz der vergangenen 170 Jahre funktionierte, weil Amtsdirektoren mit Sachwissen so viel Einfluss auf die Gesetzgebung hatten wie das Milizparlament. Der Grundgedanke des Populismus, die Mehrheit kenne den Weg in die Zukunft besser, als das kompetente Parlamentarier und Minister tun, klingt demokratisch, ist aber falsch. Weitsichtige Ideen kommen nicht von Laien, die in sozialen Netzwerken Meinungen hin und her klicken.
Denn nicht Meinungen treiben die Geschichte voran, sondern das stetig wachsende Wissen, im Zaum gehalten durch die Menschenrechte. Während in der Ära Trump die spontane Meinung Weltpolitik machte, in Holzkirchen das Glauben gepredigt wurde und erzürnte Netzwerknutzer einander (die gute Kinderstube vergessend) so richtig die Meinung sagten, ging das Erarbeiten neuen Wissens weiter: Am Cern wurde der lang gesuchte Zerfall des Higgs-Bosons in zwei Bottom-Quarks nachgewiesen, ein Schritt zu dem Verstehen, woraus wir bestehen. Bei der fossilfreien Energienutzung, Kohlenstoffabscheidung, der Herstellung von grünem Wasserstoff gab es bedeutende Fortschritte. Und die jahrzehntelange Forschung an der Boten-RNA hat zu innovativen Impfstoffen gegen Covid-19 geführt.
Toni Stadler ist Historiker und Publizist; er arbeitete 25 Jahre bei IKRK, Uno, OECD, EDA/Deza in Asien, Nahost, Afrika.
NZZ, 21. August 2021:
Eine Volksherrschaft muss von innen entstehen
Sechzig Jahre Auslandhilfe haben arbeitslosen Jugendlichen in Entwicklungsländern wenig Alternativen zur Flucht nach Europa geliefert. Was haben wir falsch gemacht? Gastkommentar von Toni Stadler
Internationale Zusammenarbeit entstand aus zwei historischen Wurzeln: die Sozialarbeit von Hilfswerken wie Helvetas oder Swissaid, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg um europäische Flüchtlinge kümmerten und danach ein Betätigungsfeld in den Ex-Kolonien fanden. Dann die Bekämpfung des Kommunismus mit marktwirtschaftlichen Mitteln in den nun unabhängigen Ländern, wie sie J. F. Kennedy mit dem Entwicklungsausschuss DAC der OECD eingeleitet hatte.
Durch alle Entwicklungstrends hindurch – rein technische Hilfe in den 1960er Jahren, ab 1970 Basisarbeit auf dem Land, ab 1980 Strukturanpassung durch IMF und Weltbank, ab 1990 die Förderung von Demokratie und Menschenrechten – hat sich die internationale Zusammenarbeit nie klar zwischen Sozialarbeit für die ärmsten Menschen und Wirtschaftsförderung für die ärmsten Länder entschieden. Derweil ein Pro-Kopf-Einkommen von einem Sechzigstel südlich der Sahara, eine Jugendarbeitslosigkeit um 30% und 400 Mio. Afrikaner ohne elektrisches Licht Zehntausende zur Flucht nach Europa treiben.
Sozialhilfelogik
Wir, die Entwicklungsexperten der Industrieländer, nahmen zu lange an, in fremden Kulturen sei alles anders: Sich ins Ungewohnte einfühlen, dessen Denkweise anzunehmen und kein «Neokolonialist in Jeans» zu sein, war das Mantra der 1970er Jahre. Unbeachtet blieb, dass viele junge Afrikaner und Asiaten ihre Kultur ganz gerne gegen etwas Moderneres ausgetauscht hätten.
Wir dachten nicht daran, unseren Partnern zu sagen, Entwicklungsfortschritt im Norden wie im Süden beruhe auf ähnlichen Eigenschaften, Neugierde, Ehrgeiz, Leistungswille. Wir hätten Regierungsvertretern, die sich mit «C’est l’Afrique» entschuldigten, antworten sollen, es gebe weder eine afrikanische noch eine buddhistische Art, eine Staatsverwaltung oder ein privates Unternehmen zu führen, nur eine professionelle, mit transparenter Buchhaltung, unbestechlichen Wirtschaftsprüfern und Strafen für Angestellte, die sich selbst bedienen. Wir hätten afrikanischen Männern auch vorschlagen können, statt acht nur drei Kinder zu zeugen, weil es in der modernen Welt nicht viele, sondern gut ausgebildete Menschen braucht. Das taten wir nicht.
Wir glaubten, die Ärmsten zu unterstützen, entwickle das Land: Der Sozialhilfelogik folgend hat «Den Ärmsten helfen» jahrzehntelang die Entwicklungszusammenarbeit begründet. Ungesagt blieb dabei, dass jede Regierung für ihre Ärmsten selbst verantwortlich ist (was humanitäre Hilfe bei Katastrophen nicht ausschliesst). Entwicklungszusammenarbeit kann finanzschwache Länder unterstützen, ihre Staatsverwaltung funktionaler zu machen und Unternehmen einen rechtssicheren Raum zu bieten, damit sie Arbeitsplätze schaffen können. Viel mehr nicht. Keine Nation ist durch Sozialarbeit von aussen industrialisiert worden, weder die Schweiz noch Südkorea oder Thailand, sondern durch Schulbildung, eine Infrastruktur, Sparen, Investieren, Produzieren, Steuernzahlen.
Wir forderten vorschnell eine komplett demokratische Regierungsführung: Jüngere können sich schlecht vorstellen, welche Euphorie unter Entwicklungsexperten ausbrach, nachdem sich die Sowjetunion aufgelöst hatte. Der Kalte Krieg war vorüber. Nicht um Kapitalismus versus Kommunismus würde es künftig gehen, sondern um echten Fortschritt. Demokratie, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung und Marktwirtschaft würden es auch in armen Ländern richten. Das DAC empfahl, diese «weichen» Sektoren zu priorisieren. In Rwanda entstand ein Netzwerk aus Dutzenden NGO für Demokratie und Menschenrechte. Im Völkermord von 1994 wirkungslos, müssen sie sich seither kleinlaut mit gesteuerten Wahlen abfinden. Rwanda blieb kein Einzelfall. Eine Volksherrschaft muss von innen entstehen, und das braucht Zeit. Ohne eine politische Kultur, getragen von Unternehmern, die auf eine ordentliche Staatsführung pochten, scheiterte Demokratisierung fast überall.
Wir umgingen zu oft den Staat: Die Schwachstelle jeder Entwicklungszusammenarbeit ist die heikle Beziehung zwischen ausländischen Experten und der Regierung vor Ort. Ob die Unabhängigkeit «geschenkt» oder erkämpft worden war; die Behörden früherer Kolonien liessen sich nicht von Weissen befehlen, wie ihr Land regiert sein sollte. Dies unterscheidet internationale Zusammenarbeit von Sozialarbeit oder dem Finanzausgleich für Schweizer Bergregionen, wo Geber und Nehmer denselben Gesetzen der Transparenz und Rechenschaftspflicht unterstellt sind.
Ich hatte keinen UNDP-Repräsentanten oder Botschafter erlebt, der gegenüber einem afrikanischen Minister ausgesprochen hätte, was die Partnerregierung falsch machte. Entwicklungsfachleuten blieb so nur die Wahl zwischen einer Konfrontation, die das Ende der Karriere bedeutet hätte, oder dem Weiterwursteln. Was dann oft hiess, dass man am dysfunktionalen Staat vorbei arbeitete oder NGO finanzierte. Doch nur der Staat kann Grundaufgaben, Gesundheit, Bildung, Landrecht, fossilfreie Elektrifizierung, bis ins letzte Dorf hinaustragen. Es ist Pflicht von Weltbank, Uno und der Politik, ein Gesprächsklima zu schaffen, in dem konstruktive Kritik an Partnerregierungen und eine enge Zusammenarbeit mit ihnen möglich wird. Geschehen war das zu meiner Zeit nicht.
Privatwirtschaft ist zentral
Wir vernachlässigten den lokalen Privatsektor: Die Unternehmerschaft ist der wichtigste Teil der Zivilgesellschaft. Das Bawi (heute Seco) spielte bei der Förderung des Privatsektors vor 1990 eine Pionierrolle. Zu einer Zeit, als im UNDP die «Förderung des Kapitalismus» durch die Uno zwiespältig gesehen wurde und Deza-Leute von sozialistischen Entwicklungswegen und Bauernrevolutionen träumten. Resultat dieser unterschiedlichen Kulturen ist, dass das Seco und die bundeseigene Sifem – statt in den ärmsten Ländern – in Schwellenländern arbeiten und ihren Budgetanteil bis heute nicht über 15 Prozent erhöhen konnten. Manche Entwicklungsleute wollen noch immer nicht wahrhaben, dass der Zwang, im Markt zu bestehen und Gewinne zu machen, eine notwendige disziplinierende Wirkung auf die Mitarbeiter von Privatbetrieben und damit – wie Ostasien zeigt – auf die ganze Gesellschaft ausübt.
Wir dachten zu wenig an Transaktionskosten: Jeder Entwicklungsdollar, der unnötig ausgegeben wird, reduziert die Wirkung im Gastland. Die Auslandhilfe-Maschinerie der Industriestaaten im Umfang von 140 Mrd. Dollar pro Jahr ist ein ins Alter gekommenes Geflecht von Hunderten einzelstaatlicher, multilateraler und privater Organisationen. Weil kein Konkurrenzdruck zur Effizienz zwingt, ist diese tief. Zu viele Chefs an den Zentralen, zu viele internationale statt lokale Angestellte, zu viele Konsulenten, zu viele Themen und oft ein mehrstufiges Sub-Contracting sind die Hauptangeklagten. Wir finanzieren Programme wie UNDP (mit 20 Prozent Verwaltungskosten), das den Auftrag an das Office for Project Services (mit eigenem Overhead) weitergibt, bevor eine NGO oder Firma die Bewässerungsanlage endlich baut.
Wir unterstützen Schweizer Hilfswerke bis zu 50 Prozent, damit sie – oft via lokale Partnerorganisationen – Projekte ausführen. Wir finanzieren gut dotierte Schweizer Universitäten mit Entwicklungsgeld. Und neun Prozent des Budgets für internationale Zusammenarbeit gehen an die Versorgung von Asylbewerbern in der Schweiz. Aus Angst vor Kritik von links («ihr arbeitet mit Menschenrechtsverletzern zusammen») und Kritik von rechts («bilaterale Hilfe taugt ohnehin nichts») machten wir uns für eine Erhöhung der Auslandhilfe von 0,45 auf 0,7 Prozent stark, ohne ernsthaft zu fragen, wie man mit dem vorhandenen Geld mehr erreichen könnte.
Notwendige Korrektur
Zurzeit sind in fast allen Industriestaaten (auch der Schweiz) Reformen im Gang, wie Entwicklungsarbeit die Armutsmigration reduzieren und einen stärkeren Beitrag zur Stabilisierung des Klimas leisten kann. Internationale Zusammenarbeit ist keine Frage des akademischen Wissens, sondern der praktischen Anwendung vorhandenen Wissens. Es geht um eine notwendige Korrektur, weg von kleinräumigen Projekten und Programmen im Feld, hin zu technischer und finanzieller Unterstützung von Fachministerien. Und um rückzahlbare Kredite für lokale Geschäftsgründer, die produktive Arbeitsplätze schaffen. So eine Kurskorrektur ist leichter in Strategiepapieren unterzubringen, als in die Praxis umzusetzen, weil einem guten Teil des Personals der internationalen Zusammenarbeit dafür das berufliche Profil fehlt. Statt Generalisten brauchte es (auch temporär) erfahrene Fachleute, Steuerexperten, Berufsschulleiter, Spitallogistiker, Solarenergie-Spezialisten, Manager, Banker, Startup-Praktiker, die in Fachministerien und Chambres de Commerce ernst genommen werden. Mit der anstehenden Pensionierung grosser Jahrgänge von Babyboomern muss die Trendwende beginnen.
Toni Stadler arbeitete 25 Jahre in humanitärer Hilfe und Entwicklung, für IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza.
NZZ 12. November 2021:
Die Klimadebatte krankt an Wirklichkeitsverleugnung
Worüber am Klimagipfel in Glasgow nicht laut gesprochen wird: Welche menschlichen Eigenschaften machen die Umsetzung des Pariser Übereinkommens so schwierig?
von Toni Stadler
Für Wohlhabende ist weniger Komfort inakzeptabel
Seit 70 Jahren gab es in Hochlohnländern fast nur überschaubare Probleme zu lösen. Die verschmutzten Gewässer, der saure Regen, das Ozonloch, das exzessive Rauchen, fast alles wurde mit geringem Widerstand der Bevölkerung in Ordnung gebracht. Die Resultate waren sichtbar und riechbar.
An schmerzfreie Lösungen, gewöhnt, akzeptieren wir ungern, dass dies beim Klimawandel anders sein könnte. In Glasgow sind die politischen Hürden und ökonomischen Konsequenzen eines Ausstiegs aus fossiler Energie zum 26. Mal nicht auf der Agenda. Sollte sich Carbon-Capture nicht realisieren, wird netto null die Petro-Wirtschaften weltweit schwer schädigen, aber auch ganze Industriezweige, Erdöl, Gas, Stahl, Zement zu kostspieligen Umstellungen zwingen.
Die verfügbaren Einkommen dürften sinken, Regierungen gestürzt werden. Auf solche Szenarien sind Demokratien schlecht vorbereitet. Die «Vergrünung» der Energieversorgung eignet sich für Wahlkämpfe nur so lange, als man Klimaschutz und Wohlstandswahrung dem Wähler wie ein widerspruchsfreies Paar verkauft und an Klimakonferenzen mogelt:
Mit Treibhausgas-Reduktionszielen in Prozenten bezogen auf zufällig gewählte Basisjahre verschleiern die Hochentwickelten, dass ein Schwede doppelt so viel Schadstoffe in der Luft entsorgt wie ein Inder, ein Deutscher zweimal so viel wie ein Schwede, ein Amerikaner dreimal so viel - und ein Katari das Siebenfache.
Arme wollen leben wie in London oder Zürich
Die 100 Länder tiefsten Einkommens hätten in Glasgow eine differenziertere Diskussion verdient. Sie, etwa Tansania, Mali oder Bangladesch emittieren weniger als 2 Tonnen Treibhausgase pro Kopf, liegen also – je nach Fläche und Vegetationsdichte – unter netto null. Doch Durchschnittszahlen schönen, weil oft mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit erneuerbarem Holz oder Holzkohle kocht.
Die rasant wachsenden Städte Afrikas, und Asiens dagegen sind Abgas-Schleudern. Der Mittelstand strebt nach gekühlten Wohnräumen, Autos, Ferienreisen. Bedenken zur Nutzung fossiler Brennstoffe haben wenige. Aus Süd-Sicht ist der Klimawandel – trotz ihren legendären Verkehrsstauungen – durch die einstigen Kolonialherren verursacht worden.
Tieflohnländer nur als Opfer zu sehen und ohne Gegenleistung den grünen Klimafonds aufzustocken, ist kurzsichtig. Pläne für fossilfreie Entwicklungswege sowie Anpassung an den Klimawandel zu verlangen, wäre das Mindeste. Und, weshalb haben die Entwicklungsagenturen der OECD ihre 140 Mia. Dollar jährlich nicht längst von Armutsreduktion (die ohnehin Aufgabe der lokalen Regierungen werden muss) auf fossilfreie Wirtschaftsentwicklung umgestellt?
Die Delegierten der Schwellenländer, Brasilien, Nigeria, Indien, Indonesien und des Spezialfalls China, welche in den vergangenen Jahrzehnten ihre Armut mit fossiler Energie stark reduziert haben und dennoch pro Kopf weniger Treibhausgase produzieren als die USA, Deutschland oder Japan, werden aus Glasgow als „grösste Klimasünder“ oder „Baummörder“ abreisen, begleitet von Ermahnungen, ihre Industrialisierung gefälligst karbonneutral zu gestalten. Solche Appelle werden ohne Wirkung bleiben, solange Hochlohnländer selbst nicht auf netto null reduzieren.
Liberalismus und Verbote
Kürzlich antwortete der Eigentümer unseres Wohnblocks in Lausanne auf eine Anfrage der Mieter, ob er im Hinblick auf Glasgow bereit wäre, die Ölheizung durch Geothermie zu ersetzen, falls die Kosten hälftig über höhere Mieten gedeckt würden. Antwort: Die Direktion für Energie des Kantons Waadt hat uns nicht instruiert, Ihre Heizung zu sanieren. «Dès lors, ces travaux ne sont pas d’actualité.»
Voilà. Zu glauben, der mündige Bürger werde freiwillig das Richtige für den Klimaschutz tun, wird da schwierig. Bekanntlich haben die Energiedirektionen kaum eines OECD-Landes eine Rechtsgrundlage, um fossil betriebene Heizungen oder Fahrzeuge ab einem Stichjahr zu verbieten.
Verbieten: Was sagt ein Liberaler dazu? Die Ängste, Eingriffe in den Markt seien immer unliberal und führten zu Planwirtschaft, sind übertrieben. Schon John Stuart Mill räumte ein, die Freiheit des Einzelnen dürfe eingeschränkt werden, wenn dies dem Schutz der Gesellschaft diene. Mill dachte an die Sicherheit der Eisenbahnen oder die Prävention von Seuchen. Heute würde er den Schutz vor Wetterkatastrophen hinzufügen.
Fast alle liberalen Ökonomen und Philosophen des 20. Jahrhunderts – Keynes, Mises, Popper, Rawls – sehen staatliche Eingriffe als Marktkorrektive vor. Beim Gewässerschutz diktierte der Bund privaten Firmen und Haushalten Milliardeninvestitionen; den Freiheitsrechten hat das nicht geschadet.
Die Pandemie erinnert daran, dass die Schmerzgrenze bei staatlichen Eingriffen tief liegt. Für ein Jahrhundertprojekt wie den Klimaschutz bräuchte es einen überparteilichen Konsens, wie er im strengen Gewässerschutzgesetz von 1971 bestand. Der Glasgow-Slogan «Uproot the System» deutet an, wie viel auf dem Spiel steht: Bekommt der Liberalismus den Klimawandel nicht in den Griff, wird er unglaubwürdig.
Misstrauen gegenüber Klimawissenschaft
Ein Teil des Problems ist hausgemacht. Der «Weltklimarat» in Bonn (UNFCCC) unterstützt zusammen mit dem Internationalen Panel on Climate Change (IPCC) die Umsetzung der Klimakonvention von 1994. Für diese Aufgabe wurde der gesichtslose Weltklimarat hierarchisch zu tief angesiedelt.
Nach 26 Konferenzen darf man fragen, wie wirksam der Weltklimarat mit seinen 450 Mitarbeitern ist. Seine COP sind zu Monsteranlässenen geworden, mit zu vielen Akteuren und einer Themenvielfalt, die eher davon ablenkt, dass die Emissionen global nicht sinken, sondern steigen.
Dem Weltklimarat fehlt es an direkter Kommunikation mit Medien, Schulen, Fabrikanten, Konsumenten. Was Tür und Tor öffnet für Politiker, die aus den Sachstandsberichten des IPCC selektiv herauszupicken, was ihnen in den Wahlkampf passt. Der Bedeutung des Problems angemessen wäre eine hochrangige Uno-Klimabehörde, unter Einbezug von Wissenschaft und Grosskonzernen, geführt von einem früheren Regierungschef oder Umweltminister.
Nur schonungslose Offenheit schafft Vertrauen in die Klimawissenschaft: Netto null heisst 1 bis 2 Tonnen Schadstoffe pro Kopf und Jahr (das reicht gerade für den Flugverkehr). CO2 verweilt über 100 Jahre in der Luft. Selbst wenn netto null bis 2050 erreicht wird, gingen das Schmelzen der Gletscher und der Anstieg des Meeresspiegels noch Jahrzehnte weiter. Die Resultate unserer Milliardeninvestitionen werden deshalb in diesem Jahrhundert weder sichtbar noch spürbar sein. Trotzdem müssen sie gemacht werden. Raschere Abkühlung versprächen nur die CO2-Entnahme aus der Luft und Solar-Geoengineering.
Toni Stadler hat bei IKRK, Uno, EDA (Deza) und vier Jahre beim Environmental Policy Committee der OECD gearbeitet.
NZZ 21. August 2021:
Eine Volksherrschaft muss von innen entstehen – von Sozialarbeit hin zu internationaler Zusammenarbeit
Sechzig Jahre Auslandhilfe haben arbeitslosen Jugendlichen in Entwicklungsländern wenig Alternativen zur Flucht nach Europa geliefert. Was haben wir falsch gemacht?
Toni Stadler
Internationale Zusammenarbeit entstand aus zwei historischen Wurzeln: die Sozialarbeit von Hilfswerken wie Helvetas oder Swissaid, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg um europäische Flüchtlinge kümmerten und danach ein Betätigungsfeld in den Ex-Kolonien fanden. Dann die Bekämpfung des Kommunismus mit marktwirtschaftlichen Mitteln in den nun unabhängigen Ländern, wie sie J. F. Kennedy mit dem Entwicklungsausschuss DAC der OECD eingeleitet hatte.
Durch alle Entwicklungstrends hindurch – rein technische Hilfe in den 1960er Jahren, ab 1970 Basisarbeit auf dem Land, ab 1980 Strukturanpassung durch IMF und Weltbank, ab 1990 die Förderung von Demokratie und Menschenrechten – hat sich die internationale Zusammenarbeit nie klar zwischen Sozialarbeit für die ärmsten Menschen und Wirtschaftsförderung für die ärmsten Länder entschieden. Derweil ein Pro-Kopf-Einkommen von einem Sechzigstel südlich der Sahara, eine Jugendarbeitslosigkeit um 30% und 400 Mio. Afrikaner ohne elektrisches Licht Zehntausende zur Flucht nach Europa treiben.
Was Entwicklungsexperten dachten
Wir, die Entwicklungsexperten der Industrieländer, nahmen zu lange an, in fremden Kulturen sei alles anders: Sich ins Ungewohnte einfühlen, dessen Denkweise anzunehmen und kein «Neokolonialist in Jeans» zu sein, war das Mantra der 1970er Jahre. Unbeachtet blieb, dass viele junge Afrikaner und Asiaten ihre Kultur ganz gerne gegen etwas Moderneres ausgetauscht hätten.
Wir dachten nicht daran, unseren Partnern zu sagen, Entwicklungsfortschritt im Norden wie im Süden beruhe auf ähnlichen Eigenschaften, Neugierde, Ehrgeiz, Leistungswille. Wir hätten Regierungsvertretern, die sich mit «C’est l’Afrique» entschuldigten, antworten sollen, es gebe weder eine afrikanische noch eine buddhistische Art, eine Staatsverwaltung oder ein privates Unternehmen zu führen, nur eine professionelle, mit transparenter Buchhaltung, unbestechlichen Wirtschaftsprüfern und Strafen für Angestellte, die sich selbst bedienen. Wir hätten afrikanischen Männern auch vorschlagen können, statt acht nur drei Kinder zu zeugen, weil es in der modernen Welt nicht viele, sondern gut ausgebildete Menschen braucht. Das taten wir nicht.
Wir glaubten, die Ärmsten zu unterstützen, entwickle das Land: Der Sozialhilfelogik folgend hat «Den Ärmsten helfen» jahrzehntelang die Entwicklungszusammenarbeit begründet. Ungesagt blieb dabei, dass jede Regierung für ihre Ärmsten selbst verantwortlich ist (was humanitäre Hilfe bei Katastrophen nicht ausschliesst).
Entwicklungszusammenarbeit kann finanzschwache Länder unterstützen, ihre Staatsverwaltung funktionaler zu machen und Unternehmen einen rechtssicheren Raum zu bieten, damit sie Arbeitsplätze schaffen können. Viel mehr nicht. Keine Nation ist durch Sozialarbeit von aussen industrialisiert worden, weder die Schweiz noch Südkorea oder Thailand, sondern durch Schulbildung, eine Infrastruktur, Sparen, Investieren, Produzieren, Steuernzahlen.
Wir forderten vorschnell eine komplett demokratische Regierungsführung: Jüngere können sich schlecht vorstellen, welche Euphorie unter Entwicklungsexperten ausbrach, nachdem sich die Sowjetunion aufgelöst hatte. Der Kalte Krieg war vorüber. Nicht um Kapitalismus versus Kommunismus würde es künftig gehen, sondern um echten Fortschritt. Demokratie, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung und Marktwirtschaft würden es auch in armen Ländern richten.
Das DAC empfahl, diese «weichen» Sektoren zu priorisieren. In Rwanda entstand ein Netzwerk aus Dutzenden NGO für Demokratie und Menschenrechte. Im Völkermord von 1994 wirkungslos, müssen sie sich seither kleinlaut mit gesteuerten Wahlen abfinden. Rwanda blieb kein Einzelfall. Eine Volksherrschaft muss von innen entstehen, und das braucht Zeit. Ohne eine politische Kultur, getragen von Unternehmern, die auf eine ordentliche Staatsführung pochten, scheiterte Demokratisierung fast überall. Keine Nation ist durch Sozialarbeit von aussen industrialisiert worden, sondern durch Schulbildung, Infrastruktur, Sparen, Investieren, Produzieren, Steuernzahlen.
Wir umgingen zu oft den Staat: Die Schwachstelle jeder Entwicklungszusammenarbeit ist die heikle Beziehung zwischen ausländischen Experten und der Regierung vor Ort. Ob die Unabhängigkeit «geschenkt» oder erkämpft worden war; die Behörden früherer Kolonien liessen sich nicht von Weissen befehlen, wie ihr Land regiert sein sollte. Dies unterscheidet internationale Zusammenarbeit von Sozialarbeit oder dem Finanzausgleich für Schweizer Bergregionen, wo Geber und Nehmer denselben Gesetzen der Transparenz und Rechenschaftspflicht unterstellt sind.
Ich hatte keinen UNDP-Repräsentanten oder Botschafter erlebt, der gegenüber einem afrikanischen Minister ausgesprochen hätte, was die Partnerregierung falsch machte. Entwicklungsfachleuten blieb so nur die Wahl zwischen einer Konfrontation, die das Ende der Karriere bedeutet hätte, oder dem Weiterwursteln. Was dann oft hiess, dass man am dysfunktionalen Staat vorbei arbeitete oder NGO finanzierte. Doch nur der Staat kann Grundaufgaben, Gesundheit, Bildung, Landrecht, fossilfreie Elektrifizierung, bis ins letzte Dorf hinaustragen. Es ist Pflicht von Weltbank, Uno und der Politik, ein Gesprächsklima zu schaffen, in dem konstruktive Kritik an Partnerregierungen und eine enge Zusammenarbeit mit ihnen möglich wird. Geschehen war das zu meiner Zeit nicht.
Privatwirtschaft ist zentral
Wir vernachlässigten den lokalen Privatsektor: Die Unternehmerschaft ist der wichtigste Teil der Zivilgesellschaft. Das Bawi (heute Seco) spielte bei der Förderung des Privatsektors vor 1990 eine Pionierrolle. Zu einer Zeit, als im UNDP die «Förderung des Kapitalismus» durch die Uno zwiespältig gesehen wurde und Deza-Leute von sozialistischen Entwicklungswegen und Bauernrevolutionen träumten.
Resultat dieser unterschiedlichen Kulturen ist, dass das Seco und die bundeseigene Sifem – statt in den ärmsten Ländern – in Schwellenländern arbeiten und ihren Budgetanteil bis heute nicht über 15 Prozent erhöhen konnten. Manche Entwicklungsleute wollen noch immer nicht wahrhaben, dass der Zwang, im Markt zu bestehen und Gewinne zu machen, eine notwendige disziplinierende Wirkung auf die Mitarbeiter von Privatbetrieben und damit – wie Ostasien zeigt – auf die ganze Gesellschaft ausübt.
Wir dachten zu wenig an Transaktionskosten: Jeder Entwicklungsdollar, der unnötig ausgegeben wird, reduziert die Wirkung im Gastland. Die Auslandhilfe-Maschinerie der Industriestaaten im Umfang von 140 Mrd. Dollar pro Jahr ist ein ins Alter gekommenes Geflecht von Hunderten einzelstaatlicher, multilateraler und privater Organisationen. Weil kein Konkurrenzdruck zur Effizienz zwingt, ist diese tief.
Zu viele Chefs an den Zentralen, zu viele internationale statt lokale Angestellte, zu viele Konsulenten, zu viele Themen und oft ein mehrstufiges Sub-Contracting sind die Hauptangeklagten. Wir finanzieren Programme wie UNDP (mit 20 Prozent Verwaltungskosten), das den Auftrag an das Office for Project Services (mit eigenem Overhead) weitergibt, bevor eine NGO oder Firma die Bewässerungsanlage endlich baut.
Wir unterstützen Schweizer Hilfswerke bis zu 50 Prozent, damit sie – oft via lokale Partnerorganisationen – Projekte ausführen. Wir finanzieren gut dotierte Schweizer Universitäten mit Entwicklungsgeld. Und neun Prozent des Budgets für internationale Zusammenarbeit gehen an die Versorgung von Asylbewerbern in der Schweiz. Aus Angst vor Kritik von links («ihr arbeitet mit Menschenrechtsverletzern zusammen») und Kritik von rechts («bilaterale Hilfe taugt ohnehin nichts») machten wir uns für eine Erhöhung der Auslandhilfe von 0,45 auf 0,7 Prozent stark, ohne ernsthaft zu fragen, wie man mit dem vorhandenen Geld mehr erreichen könnte.
Eine notwendige Kurskorrektur
Zurzeit sind in fast allen Industriestaaten (auch der Schweiz) Reformen im Gang, wie Entwicklungsarbeit die Armutsmigration reduzieren und einen stärkeren Beitrag zur Stabilisierung des Klimas leisten kann. Internationale Zusammenarbeit ist keine Frage des akademischen Wissens, sondern der praktischen Anwendung vorhandenen Wissens. Es geht um eine notwendige Korrektur, weg von kleinräumigen Projekten und Programmen im Feld, hin zu technischer und finanzieller Unterstützung von Fachministerien. Und um rückzahlbare Kredite für lokale Geschäftsgründer, die produktive Arbeitsplätze schaffen.
So eine Kurskorrektur ist leichter in Strategiepapieren unterzubringen, als in die Praxis umzusetzen, weil einem guten Teil des Personals der internationalen Zusammenarbeit dafür das berufliche Profil fehlt. Statt Generalisten brauchte es (auch temporär) erfahrene Fachleute, Steuerexperten, Berufsschulleiter, Spitallogistiker, Solarenergie-Spezialisten, Manager, Banker, Startup-Praktiker, die in Fachministerien und Chambres de Commerce ernst genommen werden. Mit der anstehenden Pensionierung grosser Jahrgänge von Babyboomern muss die Trendwende beginnen.
Toni Stadler arbeitete 25 Jahre in humanitärer Hilfe und Entwicklung, für IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza.
NZZ 30.10.20220:
Die Bändigung der Macht
Unkontrollierte Macht ist gefährlich. Machtteilung geschieht durch Demokratie, Menschenrechte und Markt. Die drei tragenden Ideen der politischen Moderne verdienen es, selbstsicher verteidigt zu werden. Gastkommentar von Toni Stadler
Persönliche Macht ist kein Einfall Luzifers. Eher die Resultierende zwischen Menschen mit wenigen und Menschen mit vielen Handlungsmöglichkeiten. Tief in unserem biologischen Erbe verankert, hat sie starken Einzelnen und ihren meist kleinen Clans über Jahrtausende Vorteile gebracht. Genau deshalb muss Macht im Staat und in Grossverbänden an Ketten gelegt werden. Die Demokratien, in die wir hineingeboren wurden, sind uns derart selbstverständlich, dass Gymnasiallehrer in Lausanne ihre Studenten fast nur noch auf die Schattenseiten der Volksherrschaft aufmerksam machen: tiefe Wahlbeteiligung, 30 Prozent Niedergelassene ohne Stimmrecht, polemische Kampagnen. Statt mindestens auch noch zu erwähnen, dass ein stolzer Mensch sich nicht durch Leute vertreten lassen will, die ihr Amt geerbt, erkauft oder durch Staatsstreiche erworben haben.
Manipulierte Demokratien
Man muss in unordentlichen Ländern gearbeitet haben, um die Essenz einer Demokratie zu schätzen. Etwa in Kambodscha, wo nach dem Abzug Vietnams mit 2 Milliarden Dollar und 15 000 Uno-Gesandten eine Demokratie installiert wurde, die wenige Jahre danach in der Einmannherrschaft von Ministerpräsident Hun Sen endete. Oder in Rwanda, wo nach dem Zerfall der Sowjetunion eine überstürzte Demokratisierung den Völkermord mit auslöste, was zur Machtübernahme des autoritären Regimes von Paul Kagame führte. In Afrika und Asien gibt es zahlreiche Beispiele von lernfähigen starken Männern, die sich einer manipulierten Demokratie bedienen, um lebenslang im Amt und im Geschäft zu bleiben.
Vollständig gelungene Demokratisierungen gab es seit der Wende eigentlich nur in Südafrika, Tunesien, Botswana und in Osteuropa, weil die Begrenzung persönlicher Macht dort funktionierte. Bei UNDP Rwanda gab es 1995 Konsultationen über eine neue Verfassung. Experten von der Harvard Kennedy School bis zum Institut für Föderalismus erklärten Offizieren des «neuen Rwanda» jede Finesse der Demokratie. Nur nicht, dass es noch keine Demokratie ergibt, wenn man jemanden zum Präsidenten wählt. Entscheidend ist die Aufsicht über die Gewählten während ihrer Amtszeit, so dass korrupte, unfähige oder die Verfassung brechende Staatschefs gewaltlos ersetzt werden können.
Dazu braucht es ein mutiges Parlament, ein oberstes Gericht mit Autorität, unabhängige Medien, einen Privatsektor als Gegengewicht zum Staat und eine minimale politische Kultur. Wie entsetzt auch immer wir gegenwärtig das Wahlspektakel in den USA verfolgen, die Institutionen dort werden dem starken Mann standhalten. Weil das Respektieren der Verfassung von beiden Parteien, den Medien, den Militärs und den Milliardären geteilt wird.
Menschenrechte begrenzen institutionelle Macht, die Befugnisse des Parlaments, der Regierung, der Polizei, der Gerichte, des Strafvollzugs. Man kann die Geschichte der Grundrechte als eine graduelle Erosion illegitimer Macht lesen: Mit der «Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen» von 1789 wurden gewisse Rechte als «unverlierbar» bezeichnet und damit künftigen demokratischen Mehrheitsentscheiden entzogen. Die politischen Morde und Enteignungen der Terrorzeit geschahen trotzdem; die Idee aber blieb.
Die amerikanische Bill of Rights von 1791 war ähnlich motiviert; Sklaven gab es zwar weiterhin, doch von nun an fand sich selbst der Sklavenhalter Thomas Jefferson im Clinch mit seinem Bild eines idealen Staats. Dass die Menschenrechte im 19. Jahrhundert fast nur für Weisse galten, nicht aber für die Kolonisierten, verstört aus heutiger Sicht. Erst das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte den Durchbruch: Mit der universellen Menschenrechtserklärung der Uno von 1948 und den beiden Pakten von 1966 wurden sie noch im 20. Jahrhundert mindestens in alle Verfassungen der früh industrialisierten Länder eingebaut. Es gibt zwar auch Menschenrechtsverstösse in OECD-Ländern, aber die werden geahndet. In den meisten Entwicklungsländern dagegen sind Fortschritte rar, obschon die «Förderung der Menschenrechte» seit dreissig Jahren jedes westliche Entwicklungsprogramm schmückt.
Ehrlich wäre, von Rückschritt zu sprechen. Zahlreiche afrikanische und asiatische Uno-Mitglieder führen Gefängnisse, in denen die Insassen ungenügend vor Willkür geschützt sind. Ihr Staat toleriert, dass Eltern – etwa bei Female Genital Mutilation – unbeschränkte Macht über ihre Kinder ausüben. In 69 Staaten gehen Regierungen strafrechtlich gegen Homosexuelle vor. Die Regionalmächte Saudiarabien und Iran betrachten (nebst anderem) die Gleichstellung von Frau und Mann als inkompatibel mit dem Islam. Die chinesische Parteiführung hält mehrere Menschenrechte für zu «individualistisch». Und die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte schweigt, weil sie weder von den USA noch von der EU genügend Unterstützung erhält.
Dreissig Jahre nach dem «Sieg der offenen Gesellschaft» und damit der Menschenrechte ist das kein Grund zum Feiern. Man kann nur hoffen, in den kommenden Jahren wachse die Erkenntnis, dass Bürgerinnen und Bürger bestimmen müssen, wie der Staat mit seinen Einwohnern umgehen darf, und nicht starke Männer, Gott oder die Tradition.
«Der aktuelle Kapitalismus wird zwangsläufig abgelöst werden, entweder durch einen Zusammenbruch durch Umweltkatastrophen oder durch einen Systemwechsel zu einer nachhaltigen Wirtschaft», lernte ich, als ich mit meinen Jungen Hausaufgaben machte. «Systemwechsel» bedeutet für den Gymnasiallehrer offenbar einen Ruck hin zu etwas Planwirtschaftlichem. So unspezifisch vage argumentieren heute viele, die nie in einem Land mit Planwirtschaft gelebt und wahrscheinlich nie in einem Privatunternehmen gearbeitet haben. Den Blick auf die «Superreichen» fixiert, übersehen Marktverächter leicht, dass der Privatbesitz von konkurrierenden Unternehmen, Wohnraum, Wertpapieren, Pensionskassen die wirtschaftliche Macht auf sehr viele Hände verteilt.
Der Markt, ein Machtverteiler
170 Jahre nach dem «Kommunistischen Manifest» muss man Karl Marx vorwerfen: Mit der Zusammenlegung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Hand einer einzigen Partei wurden unkontrollierbare Machtballungen angelegt, die im 20. Jahrhundert ausnahmslos zu Diktaturen starker Männer führten: Stalin, Kim Il Sung, Mao, Castro, Pol Pot. Bewährt dagegen haben sich die Kontrolle der Staatsmacht durch die Gewaltenteilung von Montesquieu und die weitgehende Trennung von Staat und Wirtschaft. Letztere nutzt die Eigenschaft des Menschen, sich stärker anzustrengen, wenn er davon profitiert – aber gezügelt: In jedem guten Privatbetrieb ist die interne Macht geteilt. Transparente Ausschreibungen, unabhängige Geschäftsprüfer, wachsame Aufsichtsräte verhindern die Selbstbedienung von Angestellten.
Der Markt limitiert auch die externe Macht der Unternehmen: Wer Dinge produziert, die keine Käufer finden, ist rasch aus dem Geschäft. Dies heisst nicht, dass Marktwirtschaft – wie sie jetzt funktioniert – alle Probleme löst. Selbst Adam Smith würde heute umdenken. Fragwürdig wird das System, wenn Regierungen nicht mehr den Willen aufbringen, Monopolisten wie Google, Facebook oder Amazon aufzuteilen, um den Markt spielen zu lassen. Fragwürdig wird es, wenn Parlamente und Regierungen es nicht wagen, den Produzenten und Konsumenten einen Zeitplan zum Ausstieg aus fossiler Energie vorzulegen. Hier müsste die Kritik am «aktuellen System» ansetzen. Es ist Aufgabe der Politik, mit Elementen der Marktsteuerung zugunsten des Klimaschutzes, der nachhaltigen Ressourcennutzung oder dem Abbau der Wohlstandsunterschiede einzugreifen. Lehrer sind wichtig. Wer Gymnasiasten einen Systemwechsel vorschlägt, sollte konkret aufzeigen, wie genau das Neue auszusehen hätte. Dann kann darüber diskutiert werden.
Toni Stadler, Historiker, arbeitete in seiner beruflichen Laufbahn beim IKRK, bei der Uno, der OECD und dem EDA bzw. für die Deza an guter Regierungsführung, Menschenrechten, Privatsektorförderung.
NZZ 28. Mai 2022:
Der Kolonialismus und
die Opfermentalität
Was vom Kolonialismus zu halten ist, spaltet heute die Migrationspolitik, die Entwicklungspolitik und viele Klassenzimmer. Gut, dass über Kolonialgeschichte diskutiert wird. Nur nützt ein Europa, das sich über die verflossene Weltherrschaft selbst zerfleischt, den ärmsten Ländern nichts. Gastkommentar von Toni Stadler
«Kolonialismus» in der Umgangssprache meint Verschiedenes: Die Eroberung der Azteken und Inka (beides ihrerseits Kolonialreiche) durch Spanien und Portugal zur Zeit von Leonardo da Vinci. Den Handel britischer, französischer oder niederländischer Privatgesellschaften mit Kolonialwaren und Sklaven ab der Zeit von Isaac Newton. Die Verdrängung ortsansässiger Völker durch britische Siedler in Nordamerika oder französische in Algerien zur Zeit von Karl Marx. Die durch aufgeklärte Staaten angeordneten imperialistischen Eroberungen in Afrika oder Asien zur Zeit von Claude Monet. Hinzu kommen der Binnenkolonialismus der Osmanen, des Zarenreichs, der Sowjetunion sowie das Vasallenstaat-System des kaiserlichen China, welches seine Sklaverei erst 1909 abgeschafft hatte.
«Den» Kolonialismus gibt es nicht, dafür verschiedene Arten der Fremdbestimmung, mit einer Gemeinsamkeit: Technisch und organisatorisch überlegene Völker haben regelmässig weniger fortgeschrittene unterworfen. Erst seit dem Briand-Kellogg-Pakt (1928) und der Uno-Charta (1945) ist das Erobern anderer Länder völkerrechtlich verboten. Ein Fortschritt, der aber seit 2008 durch Quasiannexionen Russlands in Georgien und heute in der Ukraine rückgängig gemacht wird.
Zwei Seiten der Aufklärung
Westlichen Lehrern fällt es oft schwer, die Aufklärung und den Fortschritt, den sie gebracht hat, hervorzuheben und gleichzeitig zu sagen, die Aufklärung habe unseren Vorfahren eben auch die Möglichkeit gegeben, das Unrecht der Kolonisierung zu begehen. In französischen und britischen Lehrmitteln ist viel Unangenehmes klein gedruckt, geht «vergessen» oder wird als «weniger gravierend» bezeichnet als Massnahmen der Konkurrenz. So die blutige Niederschlagung der Sklavenrebellion in Haiti (1802) durch Napoleon oder die brutale Repression der «Meutereien» gegen die britische Herrschaft in Indien und China im 19. Jahrhundert. Nationalstolz und Selbstgefühl sollen nicht leiden. Es fällt auf, dass auch Greueltaten, begangen durch Befreiungsbewegungen, an europäischen Kolonialisten wie in Indonesien 1947, Kenya 1955 oder Algerien um 1960 ähnlich heruntergespielt werden. Das Selbstgefühl von Einwanderern soll ebenfalls nicht leiden. Doch Geschichtsschönung hat ihre Tücken. Immigrantenkinder aus Hongkong, Mumbai oder Algier verschaffen sich via Wikipedia ein vollständigeres Bild von ihrer Vergangenheit, als in London oder Paris gelehrt wird. Den Kolonialismus in der Schule ohne Querelen zu thematisieren, ist schwierig geworden.
1975, an der Universität Zürich, konnte der Historiker Rudolf von Albertini, noch ohne von uns Studenten ausgebuht zu werden, fragen: «Wie würden Südamerika, Nordamerika, Afrika, Indien, China heute aussehen, wären die Europäer zu Hause geblieben, hätte es also keinen Kolonialismus gegeben?» 2005, als die Partei von Jacques Chirac ein Gesetz verabschiedet hatte, welches von den Lehrern verlangte, im Unterricht auch positive Seiten des Kolonialismus zu erwähnen, brachte ein Entrüstungssturm sozialistischer Historiker und Studenten das Gesetz zu Fall. Deshalb steht Folgendes in keinem französischen oder britischen Schulbuch: Portugiesen und Spanier hatten in der Renaissance einen Vorsprung beim Bau von komplexen Segelschiffen mit Sterne-Navigation, was im Safawiden-Reich und in Indien rasch kopiert wurde. Mit Engländern, Franzosen und Niederländern folgten die Dampfmaschine, der Explosionsmotor, die Elektrizität, das Flugzeug, der Transistor. Kolonialismus brachte beiden Amerika, Schwarzafrika und der Südsee die Schrift (so wie das römische Kolonialreich uns das Alphabet gebracht hatte) und den meisten Kolonien viel moderne Infrastruktur, zuerst in den Städten, später fast überall. Der Preis für diesen Transfer technischer Innovationen über 500 Jahre war hoch, besonders für die Sklaven.
Weshalb trotzdem über entwicklungsfördernde Seiten des Kolonialismus sprechen? Nicht aus Stolz – sondern weil sich Europa gegenüber seinen Statuen-Stürmern und gegenüber Autokraten in Entwicklungsländern schwächt, wenn die Kolonialzeit nur diabolisiert wird. Im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und im Entwicklungskomitee der OECD demonstrierten meine Kollegen aus Grossbritannien, Frankreich, den Niederlanden oft einen Respekt für Regierungen und Kulturen ihrer früheren Kolonien, der ans Heuchlerische grenzte. Das verunmöglichte bisher fast jeden Versuch, Entwicklungshilfe an Bedingungen wie gute Regierungsführung, Rechtsstaat und Menschenrechte zu knüpfen. Im vergangenen französischen Wahlkampf hätten sich die Kandidaten links von Macron eigentlich gern für den Kolonialismus entschuldigt. Weil dies aber patriotische Wähler abschreckt, verlagerte sich die Debatte auf die akademische Ebene. «Colonialisme» eignet sich gut für tiefsinnige Fragen ohne Antworten, etwa weshalb der aufgeklärte Victor Hugo 1879 die Kolonisierung Afrikas zwecks «Zivilisierung» öffentlich befürwortet hatte. Rechts von Macron dagegen werteten Präsidentschaftskandidaten allein schon den Anschein einer Entschuldigung als Landesverrat. Diese Politiker vergassen an keiner Wahlveranstaltung auszurufen, Frankreich habe sich für seine grossartige Vergangenheit nicht zu schämen und schulde den früheren Kolonien und deren Migranten nichts. Dieser Graben trennt heute halb Europa.
Schulbücher und Tabuthemen
Auch im Geschichtsunterricht von Entwicklungsländern geht es um die Schonung von Nationalstolz und Selbstgefühl. In muslimischen Ländern Afrikas – etwa Niger – ist der arabische Sklavenhandel in der Schule tabu. Und in den Ländern südlich der Sahara wird die einheimische Beteiligung am Sklavenhandel, etwa durch das Königreich Benin, verschwiegen. Der Historiker Albert Wirz hatte aufgezeigt, dass es vor dem Kontakt mit Arabern und Europäern einen bedeutenden innerafrikanischen Sklavenhandel gab. Spätestens ab dem Abbasiden-Kalifat (750–1258) wurden Menschen von afrikanischen Jägern eingefangen und (kastriert) via arabische Händler nach Mesopotamien, Persien, Indien verkauft. Der senegalesische Anthropologe Tidiane N’Diaye hält den islamischen Sklavenhandel für fünfmal so «tödlich» wie den christlichen – was letzteren natürlich nicht besser macht. Mit den Plantagen in Brasilien, der Karibik und im Süden der späteren USA kam im 17. Jahrhundert der atlantische Dreieckshandel dazu.
In den meisten Schulbüchern fehlt die Beteiligung der Kolonisierten am europäischen Kolonialismus, obwohl zahlreiche einheimische Fürsten mit den Fremden kooperierten. Alle Kolonialmächte rekrutierten vor Ort lokale Freiwilligenarmeen, die Briten Gurkhas, die Niederländer Molukker, die Franzosen Tirailleurs sénégalais, welche bei der Eroberung von Westafrika, danach in beiden Weltkriegen, in Indochina und im Algerienkrieg an der Seite Frankreichs kämpften. Solches in Schulbüchern unterzubringen, war nach der Unabhängigkeit nicht opportun. Kaum selbständig, wurden die Geschichtsbücher der «colons», mit der Präambel «nos ancêtres les Gaulois», eingestampft und durch solche mit afrikanischem Patriotismus ersetzt, einschliesslich eines Personenkults um die neueren Staatschefs.
Der Karibik-Franzose Frantz Fanon (Autor von «Peau noire, masques blancs») und der Ägypter Samir Amin (ein Kritiker des «Neokolonialismus») prägten den Geist der neuen Lehrmittel. Beide identifizierten die Kolonialzeit als hauptverantwortlich für die Rückständigkeit der «Verdammten dieser Erde» und forderten Kompensation. Damit war der Grundstein für eine bis heute lähmende Opfermentalität in den Geschichtsbüchern Afrikas und des Nahen Ostens gelegt. Dies, obwohl in den sechzig Jahren seither Entwicklungsländer wie Indien, Malaysia, Indonesien, Vietnam, welche länger kolonisiert waren als fast alle afrikanischen oder arabischen Länder, unter derselben globalisierten Marktwirtschaft zu erfolgreichen Schwellenländern aufgestiegen sind.
Weshalb sollten die Historiker in Entwicklungsländern ihre Texte zur Kolonialzeit vervollständigen? Nicht um Europa einen Gefallen zu tun. Sondern weil der Sündenbock «Kolonialismus» ständig davon ablenkt, Armut und Jugendarbeitslosigkeit als Folgen fehlender Rechtssicherheit, mangelhafter Berufsbildung und eigennütziger Regierungen zu verstehen. Gute Geschichtslehrer sind «Weltbildbauer». Trotz dringlicheren Problemen, Klimaschutz, Ukraine-Krieg bleibt die Kompetenz unserer Jungen in Kolonialgeschichte wichtig. Dass die technische Modernisierung der nichteuropäischen Welt auch ohne Eroberung hätte erfolgen können (etwa wie in Meiji-Japan), ist jedem klar. Doch wie ein russisches Sprichwort sagt: «Geschichte gibt es nur in der Wirklichkeitsform.»
Die Kunst des guten Unterrichts besteht darin, Studenten ein vollständiges Grundwissen der Kolonialzeit zu vermitteln. Dazu gehört die Einsicht, dass kein lebender Mensch für die Kolonialgeschichte seit Leonardo da Vinci verantwortlich sein kann. Gymnasiasten als entmutigte Bürger des kolonialen «Bösewichts» Europa ins Leben zu schicken, gibt lediglich extremen Rechts- oder Linksparteien Zulauf und nützt am Ende den ärmsten Ländern nichts.
Toni Stadler hat Kolonialgeschichte studiert und 25 Jahre in früheren Kolonien gearbeitet, u. a. für das IKRK, die Uno, die OECD und die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit.